Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Die Bilder glichen auf beunruhigende Weise jenen, die er schon als Junge im Großen Alten gehabt und später irrtümlicherweise mit Schekira in Verbindung gebracht hatte. Am Morgen erwachte er jedoch erfrischt und fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Was er indessen vorhatte, entsprach eher dem Gegenteil.
Nach einem gemeinsamen Mahl mit den Freunden begab er sich in den Park. Nur Schekira – jetzt wieder im Eisvogelgewand – war bei ihm. Er hatte ausdrücklich darum gebeten, ungestört zu bleiben. Auf dem Weg zum Ginkgo kam er an der Argo vorbei. Die Bäume unter ihr waren mittlerweile abgeäst. Während Ergil noch darüber nachsann, ob es nicht besser wäre, die Wolkenqualle ganz ins nähere Umland zu verlegen, um den Gärtner des Mazars nicht ins Grab zu bringen, erreichte er das Wiesenrund, auf dem Jazzar-sirils Ginkgo stand.
»Bist du mir böse, wenn ich dich bitte, mich nun auch allein zu lassen?«, fragte er seine kleine Freundin.
Schekira kicherte. »Wäre ich ein junges Ding, könnte das schon sein, aber da ich nun einmal hart auf die Siebzig zugehe, bin ich weise, nachsichtig und kann dir verzeihen.«
»Das ist lieb von dir. Danke.«
Die Elvin flatterte zu einem Baum am Rande des Wiesenrunds und ließ sich auf einem hoch gelegenen Ast nieder.
Ergil begutachtete den Baum zunächst wie ein Gärtner. Er sah gesund aus. Die zweilappigen Blätter, deren Form ihn stets an ein Herz erinnerte, waren zum größten Teil grün. Nirgends konnte er verdorrte Zweige sehen. Nur befanden sich, wie der Mazar es schon erwähnt hatte, keine Blüten daran. Das heißt, ein paar vertrocknete hatten Wind und Regen noch nicht abgerissen, aber diese waren, das konnte Ergil mit bloßem Auge erkennen, längst abgestorben. Nach dieser ersten Untersuchung setzte er sich ins Gras.
»Wollen doch mal sehen, was Ihr mir da geschenkt habt«, murmelte er, während er das wie eine kleine Kanne geformte Blatt zur Hand nahm, das ihm Ajuga zum Abschied überreicht hatte. Der Behälter war ungefähr so lang wie Ergils Mittelfinger und etwa doppelt so dick. Oben befand sich ein kleiner Deckel, den er nun aufklappte. Er drehte das Gefäß vorsichtig um und streute ein wenig vom Inhalt in seine hohle Hand. Die Pollen waren orangegelb und verströmten einen schweren Duft.
Ergil sammelte sich, dann steckte er die Nase in den Blütenstaub und atmete tief ein.
Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Er spürte den nun schon vertrauten Schwindel, aber diesmal ergriff ihn keine Panik. Mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis das Glücksgefühl sich einstellte. Einen Moment lang kam es ihm so vor, als tauche er in ein warmes Meer. Das Wasser schien um seine Ohren herumzusprudeln.
Dann wurde es still.
Ergil öffnete die Augen und sah neugierig in das uralte Gesicht, das freundlich auf ihn herabblickte.
Zahlreiche Furchen und auch manche Runzel verrieten, dass es eine Dame reiferen Jahrgangs war. Ihr weites, grünes, fast bis ins Gras reichende Kleid war sehr weitmaschig, aber da, wo man hindurch sehen konnte, befand sich nichts. Kein Körper, keine Füße, gar nichts. Sie schien nur aus einem knorrigen Hals und einem Kopf zu bestehen, welcher von einem jener großen Sonnenhüte beschirmt war, die man in Susan oft zu sehen bekam. Natürlich war auch dieses Kleidungsstück grün und löchrig.
»Es freut mich, dass du zu mir zurückgefunden hast«, begrüßte die Ginkgofrau freundlich den jungen Mann. Ihre Stimme war dunkel, als erklinge sie im Innern eines hohlen Baums.
»Eigentlich ist es mein Bruder gewesen, der zuletzt hier war«, sagte Ergil und stellte sich förmlich vor.
»So, so, ein Edelmann bist du, so wie ich eine Edelfrau. Ich bin Goldpflaume, die Mutter aller Ginkgos. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches, Ergil?«
»Zunächst möchte ich Euch von Ajuga dem Jüngeren grüßen.«
»Oh!« Ein Rascheln ging durch das bauschige Kleid. »Das ist aber nett. Ihr kennt unseren König persönlich?«
»Wir sind uns einmal begegnet. Er gab mir den Blütenstaub, der uns diese Unterhaltung ermöglicht. Ich möchte Euch nämlich etwas fragen.«
»Nur zu!«, freute sich Goldpflaume. »Gefragt hat mich schon lange keiner mehr etwas. Was kann ich für dich tun?«
»Eigentlich wollte ich etwas für Euch tun, ehrenwerte Goldpflaume. Ich möchte, dass Ihr wieder Früchte tragt.«
Im nächsten Moment bedauerte Ergil, dass er gleich mit der Tür ins Haus gefallen war. Unfruchtbarkeit schien ein Thema zu sein, auf
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