Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Die Längenunterschiede der einzelnen Finger waren beträchtlich. Einen indes konnte man nur als Stummel bezeichnen. Er war mit einem Verband umwickelt, in welchem sich ein grüner Fleck abzeichnete.
Ergil beschlich ein beunruhigender Verdacht. Er wandte sich wieder dem König der Bäume zu, um auch ihn eingehender zu betrachten. In der Runde der Waldbewohner überragte Ajuga alle anderen. Er war ein Riese von fünfzig Fuß oder mehr. Auch im Umfang stellte er die Artgenossen in den Schatten. Sein Gesicht war tief zerfurcht und mit etlichen Warzen bedeckt. Die dünne krumme Nase gabelte sich an der Spitze; an einem Ende hing ein Tropfen… nein, ein Blatt. Der breite Mund ließ sich nur ausmachen, weil er im Gegensatz zu den anderen Runzeln eine quer verlaufende Falte war. Und die tellergroßen Augen blickten streng, aber nicht unbedingt böse auf die Gefangenen hinab. Im Großen Alten hatte Ergil allerlei Lebewesen kennen gelernt, darunter auch die knorrigen kleinen Wurzelgnome, aber ein Geschöpf wie dieses war ihm noch nie begegnet. Merkwürdigerweise hatte er trotzdem das Gefühl, es zu kennen.
»Wir Wurzeligen besitzen ein unstillbares Harmoniebedürfnis«, sagte Ajuga auf eine fast einschläfernd ruhige Weise.
Diese Gesprächseröffnung irritierte Ergil. Er wollte auch nichts Verkehrtes sagen, weil er ja nach Auskunft des Höflings hier war, um sich wegen irgendeiner »Untat zu verantworten«. Seine Gefährten sahen ebenso ratlos aus.
»Deshalb solltet Ihr uns vielleicht zuerst Euer Gefolge vorstellen«, fuhr Ajuga gemächlich fort.
Ergil atmete auf. Der erfreulich unverfänglichen Aufforderung kam er gerne nach. Als Jazzar-fajim an die Reihe kam, ging ein Geräusch wie lautes Blätterrascheln durch die Runde – die Ratgeber Ajugas tuschelten miteinander.
»Und zuletzt«, begann Ergil, um seine eigene Abstammung anzusprechen, aber in diesem Moment trat der Sirilo zur Seite und gab den Blick auf eine fahle Gestalt frei. Ergil verstummte mit offenem Mund.
Wer war das jetzt? In einem versteckten Winkel seines Bewusstseins hörte er eine Antwort, aber sie war zu leise, um den Namen des Farblosen zu verstehen. Der Unbekannte lächelte ihm zu. Er besaß edle Gesichtszüge. Sein schlanker, nicht sehr großer Körper hätte gut zu einem Gelehrten gepasst. Allerdings war sein ganz und gar graues Äußeres doch ein wenig verwirrend. Sogar die unbedeckten Körperteile sahen aus wie mit Staub bedeckt und an einigen Stellen waren sie durchscheinend – man konnte Ajugas Höflinge dahinter sehen.
»Was ist?«, fragte der Baumkönig, ohne im Geringsten drängend zu klingen. »Wollt Ihr uns den Namen dieses Gefährten nicht verraten?«
Ergil rang nach Worten. Die umstehenden Baumlinge, oder wie immer man diese Geschöpfe nennen sollte, schienen viel Geduld zu besitzen. Eine kleine Ewigkeit verstrich, während er die möglichen Folgen einer falschen Antwort abwog. Was für einen Eindruck würde es auf diesen harmonieversessenen Monarchen machen, wenn seine Besucher einander nicht einmal kannten?
»Mein Name ist Nisrah aus dem Volk der Weberknechte«, erklärte da der Fahle mit einer Verbeugung in Richtung Ajugas.
Fast wären Ergil die Beine unter dem Körper zusammengeklappt. Nisrah?, rief er in Gedanken, aber keine Antwort kam. Sein Herz begann wieder wild zu pochen. Was war hier los? Erst Schekiras sonderbares Wachstum und jetzt…
»Verzeiht, junger König, wenn ich so direkt bin, aber Ihr macht mir einen etwas verwirrten Eindruck«, stellte Ajuga fest.
»J-ja«, stotterte Ergil. »Ich… äh… kann nicht verstehen, warum Vertrautes mir hier so fremd erscheint und Fremdes so vertraut.«
Der Mund Ajugas verzog sich knarrend. Irgendetwas platzte dabei aus seinem Gesicht ab und flatterte zu Boden. »Das mag an unserem Blütenstaub liegen. Er hat Euch in einen Zustand zwischen Traum und Wachen versetzt.«
Schlagartig wurde Ergil der Grund für all die merkwürdigen Wahrnehmungen klar. Es waren nur Trugbilder! Eine gemeinschaftliche Halluzination. Daher auch die komischen Hemden. »Dann ist alles, was wir hier sehen, gar nicht wirklich?«
»O doch!«, widersprach Ajuga. »Wirklich ist, was Ihr erlebt. Nur befindet Ihr und Eure Gefährten Euch gerade in einer Euch weniger vertrauten, in einer anderen Wirklichkeit. Der kleine Trick war leider nötig, damit Ihr mit uns sprechen und uns als etwas wahrnehmen könnt, das Euch Beinigen entfernt ähnlich ist. Bitte entschuldigt diesen Eingriff in Euer Recht auf
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