Mirage: Roman (German Edition)

an. Sie deutete auf den Prediger und sagte: »Glaubst du, er ist jetzt bei Gott?«
    »Gut möglich, wenn er in Fairfax geblieben ist. Aber ich bezweifle, dass er leibhaftig in den Himmel versetzt wurde, so wie er es erwartet hatte.«
    Zwar hatte der Angriff der Koalitionskräfte auf Washington durchaus Opfer gefordert, aber das vom amerikanischen Präsidenten versprochene Massaker war ausgeblieben. Ein Jahr später allerdings, nachdem Aufständische in einem Dorf namens Langley eine Gruppe von zivilen Dienstleistern ermordet hatten, war das VAS-Marineinfanterie-Corps in Fairfax County eingerückt, um die Ordnung wiederherzustellen. Das folgende Gefecht war eines der blutigsten der gesamten Besatzungszeit gewesen, und die Mariner hatten schließlich Phosphorgranaten und Napalmbomben eingesetzt, um die Aufständischen aus den dichtbewohnten Gebieten zu vertreiben, in denen sie sich verschanzt hatten.
    Mustafa musterte das im letzten Bild des Videos erstarrte Gesicht des Predigers. Warst du noch immer da, als es vom Himmel Feuer zu regnen begann?, fragte er sich. Was ging dir da durch den Kopf? Hast du gedacht, Gott habe dich verlassen? Du seist von der Entrückung ausgeschlossen worden? Oder hast du sofort angefangen, nach einer neuen Prophezeiung zu suchen – einer, die dem Verlust, den du nie für möglich gehalten hattest, einen Sinn verleihen würde?
    Puderzucker stäubte wie ein Wirbel feiner Asche vor dem Bildschirm herab. »Mustafa«, sagte Samir, den Mund voll Gebäck. Er zeigte auf eine Sekretärin, die gerade den Aufenthaltsbereich betreten hatte. »Ich glaube, Waj wäre jetzt so weit.«
    »Ein schöner Name für eine schöne Frau«, sagte Wajid Jamil. »Wird sie die Nummer drei, Mustafa?«
    »Wie bitte?«, sagte Amal.
    »Nur ein Scherz, natürlich.« Waj lächelte, um zu zeigen, dass er es nicht böse gemeint hatte. »Sie sind bestimmt schon verheiratet … und vielleicht Mutter?«
    Das war noch so eine von Wajids Post-9.-November-Obsessionen: der Bevölkerungswettlauf zwischen Islam und Christentum. Muslime hatten im Pro-Kopf-Durchschnitt mehr Kinder, aber da die Christen so sehr in der Überzahl waren, würde es viele Jahrzehnte dauern, ehe der Gleichstand erreicht wäre. Und das auch nur unter der Annahme, dass sich nichts änderte: Frauen wie Amal, denen der Beruf wichtiger als die Familie war, gemahnten daran, dass die Geburtenrate kein fester Wert war.
    Mustafa hatte seine eigenen Gründe, weswegen er dieses Thema nicht anschneiden wollte. »Bei allem Respekt, Wajid«, sagte er, »wir sind nicht hergekommen, um über dieEhe zu sprechen. Wenn du eine ausführliche Diskussion über diesen Gegenstand führen möchtest, würde ich dich gern an Amals Mutter, die Senatorin, verweisen.«
    »Die Senatorin?« Wajs Lächeln machte eine Phasenverschiebung durch, kaum merklich, aber immerhin. »Sie sind Anmar al-Maysanis Tochter?«
    »Ist sie. Und du, Waj, bastelst du mit der Senatorin nicht gerade an irgendeinem Gesetzentwurf herum?«
    »Doch. Ich bearbeite sie im Auftrag von Onkel – ich meine, von Gouverneur Gaddafi wegen des neuen Telekommunikationsgesetzes …«
    »Viel Glück dabei«, sagte Amal.
    »Nun gut«, leitete Waj nahtlos über. »Kommen wir zum Thema, einverstanden?« Er zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück, eine mit mehreren Bildschirmen ausgestattete wuchtige Kommandobrücke. »Bitte, nehmt alle Platz. Sagt mir, was das Haus der Weisheit für das Heimatschutzministerium tun kann …«
    Sie setzten sich. Mustafa referierte seine Vernehmung Costellos und das Resultat der Durchsuchung von dessen Wohnung und lieferte dann eine redigierte Fassung der Besprechung in Faruks Büro. Idris erwähnte er mit keinem Wort und den Präsidenten nur indirekt, indem er erklärte, sie seien »von Riad« aufgefordert worden, die Fata-Morgana-Legende näher unter die Lupe zu nehmen. »Wir dachten, wenn jemand etwas über einen neuen christlichen Mythos weiß, der gerade die Runde macht, dann du, Waj«, schloss er.
    »›Die Fata Morgana‹, hmmm …« Waj tippte auf seiner Tastatur, betrachtete seine Bildschirme. »Sieht nicht so aus, als ob darüber schon etwas in meinen Datenbanken wäre … Du sagst, das hängt mit der Entrückungstheologie zusammen?«
    »Das ist eine Theorie.«
    »Ja, nun, würde schon einen Sinn ergeben. Diese Entrückungstypen sind auch nicht anders, sie rechnen immerdamit, dass nächste Woche der Jüngste Tag kommt, und wenn nächste Woche die Welt noch da ist, reißen sie sich ein