Miramar
eigentlich immer am Sonntagabend, wenn
du frei hast?«
»Ich gehe ins Kino.«
»Allein?«
»Mit Madame.«
Liebevoll sagte ich: »Gott beschütze
dich.«
»Sie sind besorgt um mich, als wäre ich
ein kleines Mädchen«, entgegnete sie lächelnd.
»Das bist du doch auch, Zuchra.«
»Nein, Sie werden feststellen, daß ich
in kritischen Zeiten auftreten kann wie ein Mann!«
Ich neigte mich zu ihrem hübschen
Gesicht, das ich so gern hatte, und warnte: »Zuchra, diese jungen Männer kennen
keine Grenzen, wenn es um ihr Vergnügen geht, aber wenn es ernst wird ...« Ich
schnipste mit den Fingern.
»Mein Vater hat mich über alles
belehrt«, entgegnete sie.
»Ich habe dich wirklich gern und habe
Angst um dich.«
»Ich verstehe schon. Seit mein Vater
tot ist, war niemand so zu mir wie Sie, und ich habe Sie auch gern.«
Nie zuvor hatte ich gehört, daß diese
Worte der Zuneigung mit solch überströmender Zärtlichkeit gesagt wurden. Dabei
hätte es durchaus sein können, daß mich Dutzende unschuldiger Kindermünder in
gleicher Weise angesprochen hätten, die Münder meiner Kinder und Enkel nämlich,
die ich heute hätte, wäre nicht damals in verstockter Dummheit ein Vorwurf
gegen mich erhoben worden, eine Beschuldigung, zu der kein Mensch auf dieser
Erde das Recht hat.
Ein weißer
Gesichtsschleier, der die Augen frei ließ. Die alte Frau trat aus dem Tor in
die Gasse und sagte: »Komm, Mädchen, es hat aufgehört zu regnen.«
Das Mädchen mit dem weißen Schleier
folgte ihr, schritt vorsichtig über den schlüpfrigen Boden und wich einer
großen Pfütze aus. Von ihrer Schönheit ist mir heute nur noch der Eindruck von
damals in Erinnerung geblieben.
Ich trat zur Seite und sagte bei mir:
»Lob dem Schöpfer, der solche Schönheit in seiner Gnade erschaffen hat!« In
meines Herzens Tiefe erzitternd, faßte ich den Vorsatz: »Ich will mein
Vertrauen auf Gott setzen, und je eher, desto besser!«
Wir waren allein im Entrée. Ich saß
unter dem Bild der Jungfrau, deren blaue Augen gedankenschwer dreinschauten.
Seit den Mittagsstunden hatte es ununterbrochen geregnet, und hin und wieder
grollte Donner durch die Wolken.
»Monsieur Amir, es liegt etwas in der
Luft«, erklärte Madame. Vorsichtig fragend schaute ich sie an, da fuhr sie
mißbilligend fort: »Zuchra!« Dann, nach einer kurzen Pause: »Und Sarhan
al-Buheri!«
Mir wurde zwar beklommen zumute, aber
ich fragte ganz naiv zurück:
»Was meinen Sie damit?«
»Sie wissen sehr wohl, was ich meine!«
»Aber das Mädchen ...«
»In solchen Dingen täusche ich mich
nicht.«
»Das Mädchen ist anständig und weiß
sich richtig zu verhalten, meine liebe Mariana.«
»Wie auch immer sie sein mag, ich habe
es nicht gern, wenn sich etwas hinter meinem Rücken tut!«
Zuchra soll also entweder anständig
bleiben oder tun, was dir nützt. Ich durchschaue dich, du alte Vettel!
Ich träume — während meines
Nachmittagsschläfchens — von der blutigen Demonstration, nach der die Engländer
den Platz vor der Azhar stürmten.
Als ich die Augen öffne, dröhnen mir
die Stimmen der Demonstranten und die Schüsse durchs Hirn. Nein, das sind
andere Stimmen, außerhalb meines Zimmers, die durch die Pension hallen. Ich
ziehe mir den Morgenrock an und trete voller Beunruhigung auf den Gang. Alle
stehen im Entrée. Einige sind lediglich neugierig wie ich. Sarhan al-Buheri
aber ist aufgeregt, zornig, rückt seine Krawatte und seinen Hemdenkragen
zurecht. Ebenso Zuchra.
Blaß vor Zorn steht sie da. Der Kragen
ihres Kleides ist zerrissen. Ihre Brust hebt und senkt sich. Husni Allam im
Morgenrock setzt gerade eine schreiende und schimpfende fremde Frau vor die
Tür, die Sarhan al-Buheri ins Gesicht spuckt, bevor sich die Tür hinter ihr
schließt.
Madame ruft: »Das ist doch unmöglich,
wir sind eine angesehene Pension!«
»Das geht zu weit!« protestiert sie
heftig. Dann leert sich das Entrée, und nur wir drei bleiben zurück, sie, ich
und Tolba Marzuq.
»Was ist denn nur passiert?« frage ich,
immer noch schlaftrunken.
»Ich habe nicht viel mehr gesehen als
Sie«, erwidert Tolba Marzuq. Madame geht in Sarhans Zimmer, offenbar, um zu
hören, was geschehen war.
»Unser Freund al-Buheri scheint ein
ausgesprochener Don Juan zu sein«, setzt Tolba Marzuq das Gespräch fort.
»Was veranlaßt Sie zu dieser Meinung?«
»Haben Sie denn die Frau nicht gesehen,
die ihn angespuckt hat?«
»Aber wer war die fremde Frau?«
»Eine Frau, irgendeine Frau!«
»Eine Frau, die
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