Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
ihn doch so sehr gebraucht, ich habe so sehr einen Menschen gebraucht, der mich liebt! Das musst du verstehen. Verstehst du mich?“
Ich nickte, obwohl ich dachte: Nein, ich verstehe grad überhaupt nichts mehr.
„Mama, erzähl. Was ist damals passiert? Ich kann nicht glauben, dass du, ausgerechnet du, Schuld am Tod eines Kindes haben sollst. Du bist mir doch immer eine so vorsichtige Mutter gewesen, nie ist mir etwas Ernstes passiert.“
Sie starrte tränenblind vor sich hin, und die Minuten verstrichen in qualvoller Spannung, ehe sie weitersprach. Ihr Blick verweilte so tief in der Vergangenheit, das hatte ich noch nie bei ihr erlebt. Sie sprach jetzt wie losgelöst von der Realität.
„Dein Bruder war drei Jahre alt. Genau drei. Er hatte Geburtstag gehabt. Genau an diesem Tag. An diesem schrecklichen Tag. Ich arbeitete damals als Pflegerin in einem Altenheim. Sie riefen mich an, ich solle die Nachtwache übernehmen, weil die Kollegin krank geworden war und die andere im Urlaub sei. Sie wussten, dass ich ein kleines Kind hatte. Ich wollte erst nicht. Wirklich nicht. Ich wollte ihn nicht allein lassen. Aber sie setzten mich unter Druck. Sie wussten genau, dass ich auf den Verdienst angewiesen war, dass ich alleinerziehend war. Wenn ich heute Nacht nicht käme, sagten sie, müssten sie sich jemand anders suchen, der flexibler sei. Das machte mir Angst. Ich musste doch auch den Tages-Hort bezahlen. Ich willigte also ein, die Nachtwache zu übernehmen, für diese eine Nacht. Bevor ich ging, brachte ich Benito ins Bettchen, er war etwas warm, aber ich dachte, das wäre von der Aufregung der Geburtstagsfeier. Er hatte sich so sehr über den Bagger gefreut, er nahm ihn sogar mit ins Bett. Die Nachbarin sollte nachts nach ihm sehen, ich bat sie darum und bot ihr auch Geld dafür an.“
Meine Mutter fiel in ein düsteres Schweigen. Ihr Gesicht war nun grau und verzerrt. Als sie weitersprach, konnte ich es kaum mit anhören, ihre Stimme klang so furchtbar gequält.
„Als ich um 7 Uhr morgens wieder nach Hause kam, da lag er wie tot im Bett. Die Nachbarin hatte mein Geld genommen und ging dann aber schlafen. Ich rief den Notarzt. Er kam zu spät, mein Kleiner war tatsächlich tot. Ich brach zusammen, meine ganze Welt brach zusammen. Wenn ich ihn nicht allein gelassen hätte, dann würde er heute noch leben. Ich verlor völlig den Verstand und versuchte, meine Nachbarin zu erschlagen. Ich hasste sie so sehr! Warum nur war sie so pflichtvergessen gewesen? Warum nur war ich selbst so pflichtvergessen gewesen? Ich hätte mein Kind nicht über Nacht alleine lassen dürfen. Was ist schon ein Job gegen ein Kind? Ich hätte besser die Arbeitslosigkeit und Armut auf mich genommen. Aber mein Blick für die Welt war so verengt gewesen, ich hatte so viele Ängste.
Sie wiesen mich in eine Nervenklinik ein. Als ich entlassen werden konnte, war Benito längst beerdigt. Tante Ursula hatte sich um alles gekümmert. Nach der Entlassung lebte ich einige Monate bei Ursula und Walther auf Sylt. Dort lernte ich dann auch einige Jahre später deinen Vater kennen, Melli.“
„Mama, das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid für dich.“ Ich nahm meine Mutter in die Arme. Wenn ich es gekonnt hätte, so hätte ich all ihren Schmerz auf mich genommen. Doch ich konnte nur Anteil nehmen und sie halten.
„Tante Ursula hatte mir alles abgenommen. Die Polizei hatte, auch wegen meines tätlichen Angriffes auf die Nachbarin, eine Obduktion angeordnet. Ich stand im Verdacht, das Kind selber getötet zu haben. Kannst du dir das vorstellen? Aber er hatte einen bisher unerkannten Herzfehler, und das Fieber war durch eine akute Meningitis gekommen. Es war einfach zu viel für sein krankes, kleines Herz!“
„Warum hast du mir das nie erzählt?“
Meine Mutter lachte bitter auf. „Wozu denn? Damit du mich verachtest? Es ist meine Schuld, verstehst du nicht? Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen, ich hätte doch einen Arzt geholt oder ihn gleich ins Krankenhaus gebracht, wenn ich sein Fieber bemerkt hätte. Aber stattdessen habe ich alten Menschen den Hintern gewaschen und um meinen Job gebangt.“
„Und Papa wusste von all dem nichts?“
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Was ist eigentlich mit dem Vater des Kindes? Hatte er dich im Stich gelassen?“
Ihr Hals war trocken geworden vom Weinen und Reden, ich gab ihr erst mal ein Glas Apfelsaft.
„Er wusste nichts von der Schwangerschaft.“
„Was? Wieso hast du ihm das verschwiegen?
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