Mischpoche
zurecht, doch es war ihm deutlich anzusehen, wie lästig ihm diese gesellschaftliche Verpflichtung fiel.
Eigentlich wollte er dem merkwürdigen Paar keine weitere Beachtung schenken, doch unwillkürlich fiel ihm jener Maiabend vor drei Jahren wieder ein, da eine eingeschleuste Provokateurin im Wiener Burgtheater einen balkanischen Exilpolitiker während der Aufführung ermordet hatte. Damals war die Tat zunächst gar nicht aufgefallen, da das Publikum glaubte, der Schuss habe zur Szene gehört. Erst, als eine Frau in der Nachbarloge aufgeschrien hatte, um danach in Ohnmacht zu fallen, war der Mord entdeckt worden.
Aber hier schien eine solche Gefahr nicht zu bestehen. Zwar war auch in diesem Fall die Frau wunderschön und bemerkenswert jung, doch der alte Mann an ihrer Seite konnte schwerlich irgendeine Prominenz für sich ins Treffen führen. Das einzige Rätsel, das dieses Paar mithin in sich barg, war die Frage, weshalb eine solche Frauensperson sich mit einem derart bedeutungslosen Männlein abgab.
Es klingelte zum dritten Mal, und damit wusste auch Bronstein, dass das Konzert nun gleich beginnen würde. Vorne quietschten noch ein paar Instrumente, die offensichtlich von ihren Spielern noch einmal gestimmt wurden, dann trat der Dirigent auf die Szene, nahm mit einer Verbeugung den Applaus des Publikums entgegen, stellte sich an seinen Platz und klopfte mit dem Taktstock in kurzer Abfolge mehrmals auf sein Pult, ehe er ihn wieder anhob und in der Luft mit ihm bewegungslos verharrte.
Nun ging auch der Vorhang auf und der Meister selbst wurde sichtbar. Auch er verbeugte sich, dann klemmte er seine Violine unter das Kinn und wartete auf seinen Einsatz. Die Musik hob an – Bronstein vermutete darin eine Art Ouvertüre, denn Prihoda griff vorerst nicht in das Spiel ein –, und das Publikum lauschte gespannt den Harmonien, die sich im Raume ausbreiteten.
Einmal mehr bekam Bronstein für sich bestätigt, dass ihm die Muse nicht gewogen war. Während andere Zuhörer hingerissen jeden einzelnen Ton förmlich aufzusaugen schienen, machte sich in ihm einfach nur Langeweile breit. Nicht, dass er nicht auch ein Musikfreund gewesen wäre, doch er benötigte, um sich für eine Melodie begeistern zu können, etwas Bombastischeres als eine Geige, die so vor sich hin fiedelte. Wagner! Ja! Das war Musik. Da konnte man förmlich spüren, wie die Welt aus den Angeln gehoben wurde, wie der Mensch mit seinem Schicksal rang. Aber hier? Was sollte das alles überhaupt darstellen? Eine unglückliche Liebesgeschichte? Eine lyrische Melancholie? Einen Blick auf die Steuervorschreibung? Wie lange es wohl noch bis zur Pause dauern würde?
Erschreckt fuhr Bronstein hoch. Irgendetwas hatte sich ihm in die Seite gebohrt. War er verwundet worden? Verwirrt blickte er um sich und starrte alsbald in Pokornys missbilligendes Gesicht: »Schlafen kannst im Büro«, zischte der, »aber ned in der Philharmonie!«
Bronstein zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Trink in der Pause einen starken Kaffee, damit du nicht noch einmal wegbüselst.« Der Rest von Pokornys Tadel wurde durch ein durchdringendes »Schscht!« aus der Sitzreihe hinter ihnen abgewürgt. Die Pause! Wenn die nur endlich käme!
Offenbar hatte Maestro Prihoda Mitleid mit dem künstlerisch überforderten Kieberer, denn er setzte plötzlich und unvermutet den Bogen ab, während gleichzeitig alle Musik erstarb. Prihoda verbeugte sich, der Dirigent und die Personen im Orchestergraben taten es ihm gleich. Allesamt wurden sie stürmisch bejubelt, und erst nach einer kleinen Weile wagten sich die ersten Konzertgäste aus ihren Sitzreihen, um sich ins Foyer zu begeben. Bronstein entwickelte eine ungeahnte Energie und überholte auf dem Weg zum Café eine erkleckliche Zahl an Personen, die sich lange vor ihm in Bewegung gesetzt hatten. Mit einer gewagten Kombination aus Axel und doppeltem Rittberger, die Karl Schäfer in der Engelmann-Arena alle Ehre gemacht hätte, setzte er sich an die Spitze der Kolonne und konnte so als Erster eine Schale Gold ordern. Kaum hatte er sein Heißgetränk erhalten, brachte er sich hinter einer Säule vor dem Rest des Publikums in Sicherheit. Er zündete sich eine Zigarette an und empfand zum ersten Mal an diesem Abend so etwas wie Zufriedenheit.
Diese verfestigte sich noch, als Bronstein beobachtete, wie Pokorny vergeblich nach ihm Ausschau hielt. Wenigstens für eine Viertelstunde würde er Herr über sein Schicksal sein, dachte Bronstein dankbar und
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