Mischpoche
nahm genussvoll einen weiteren Zug von seiner Egyptischen. Zwei Zigaretten später verspürte Bronstein ein gewisses Bedürfnis. Er lugte hinter der Säule hervor und sah sich nach den Toiletten um. Rasch hatte er sie gefunden, und doch waren sie für ihn unerreichbar. Denn sie wurden von einem unüberwindlichen Zerberus bewacht. Pokorny war offenbar zu dem Schluss gekommen, früher oder später würde Bronstein just an diesem Ort vorbeikommen, wo er ihn dann wieder arretieren konnte. Bronstein aber war nicht gewillt, sich so leicht in sein Schicksal zu fügen. Es musste ja auch im ersten Stock Sanitärräume geben, und wie es der Zufall so wollte, befand er sich gerade drei Meter von der Treppe entfernt. Mit einem eleganten Dreisprung, mit dem Vilho Tuulos wohl auch in Amsterdam Gold geholt hätte, katapultierte sich Bronstein auf die erste Stufe und eilte daraufhin mit Riesenschritten in die obere Etage.
Er hatte die Pforte zur physischen Erleichterung bereits beinahe erreicht, als er unabsichtlich Zuhörer eines lautstarken Dialogs wurde. Fraglos kam er aus der Loge, die dem Abort gegenüberlag.
»Dich heiraten? Wo denkst du hin! Eher eheliche ich einen Beduinen in seinem Zelt.«
»Aber Schatzi, schau, das wär doch das Beste für alle. Dann hat das Kind einen Namen.«
»Welches Kind? Glaubst du, ich lasse mir von dir ein Balg andrehen? Eher übe ich für den Rest meines Lebens strikte Enthaltsamkeit.«
Bronstein stieß einen kurzen Pfiff aus. Da konnte man wohl getrost von dicker Luft reden. Nun, ihn ging das nichts an, er hatte andere Aufgaben, die einer Erledigung harrten. Eiligen Schrittes näherte er sich dem Pissoir, wo er sodann endlich verrichtete, was die Natur von ihm schon seit geraumer Zeit verlangte.
Erleichtert trat Bronstein wieder in den Rundgang. Just in diesem Moment wurde die Tür der Loge aufgerissen, aus der zuvor der heftige Wortwechsel gedrungen war. Für einen Augenblick erkannte Bronstein das Gesicht der jungen Prinzessin, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Bronstein meinte, in diesen dunklen Augen unendliche Traurigkeit erkennen zu können, doch noch ehe sich dieser Gedanke in seinem Gehirn wirklich voll entfaltete, wurde die Tür von innen hart zugestoßen.
»Du bleibst da, hab ich g’sagt!«, hörte er wieder die Männerstimme, die wohl dem alten Galan gehörte.
»Einen feuchten Kehricht werd‘ ich! Ich gehe jetzt, und du kannst mich vergessen. Und zwar für immer!« Tja, da hat’s was, dachte sich Bronstein und schickte sich an, ins Erdgeschoss zurückzukehren.
»Lass mich raus! Du sollst mich rauslassen!«
Ob er eingreifen sollte? Nein. Da blamierte man sich nur. Derlei Kalamitäten in höchsten Kreisen regelten sich immer irgendwie, und als kleiner Ordnungshüter zog man sich in der Regel den Zorn beider Seiten zu, wenn man sich zwischen sie drängte.
»So lass doch endlich los! Hilfe!!«
Durfte man ein »Hilfe!« ignorieren? Man konnte ja einmal unverbindlich an die Tür klopfen und unter Berufung auf das Ruhebedürfnis des übrigen Publikums um Mäßigung bitten. Zumal es bereits zum zweiten Mal geläutet hatte und das Konzert gleich weitergehen würde. Bei dieser Gelegenheit mochte man sich dann auch unauffällig einen Eindruck verschaffen, ob weiteres Eingreifen vonnöten war. Bronstein verharrte mitten im Schritt auf der Treppe und konstatierte, dass in ihm Pflichtbewusstsein und das Gefühl, sich möglicherweise bemerkenswerter Peinlichkeit auszusetzen, um die Vorherrschaft rangen.
Das Läuten klang jetzt plötzlich ganz anders. Nicht mehr so schrill und langwährend, eher sehr dumpf und kurz. Nein, das war gar nicht das Läuten gewesen. Das war … ein Schuss! Da! Noch einer! Und noch einer! Vier! Fünf! Hier hatte ohne Frage eben jemand in schneller Abfolge fünf Schüsse abgefeuert. Bronsteins Oberkörper vollführte eine Halbdrehung in Richtung der Loge, aus der eben noch der lautstarke Streit gedrungen war. Dort war es mit einem Mal bemerkenswert still. Keine Frage, nun musste er Nachschau halten. Daran führte kein Weg mehr vorbei.
Der Rest seines Körpers vollzog nun ebenfalls die bereits begonnene Bewegung, und eben, als Bronstein wieder die erste Etage erreicht hatte, wurde die Logentür aufgerissen und der ältere Galan rief ihm »Mord! Mord!« entgegen.
»Na, schauen S’ ned so blöd. Die Prinzessin ist von einem Wahnsinnigen erschossen worden«, schrie der Mann, »aufhalten müssen S’ ihn. Dahin ist er gelaufen!«
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