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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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Kunstgeschichte auch sehr interessiert hätte. Und Fotografie. Und Film. Er könnte sich vorstellen, Kameramann zu sein oder Fotograf. Oder um die Welt zu reisen und im Auftrag von Museen Kunstwerke zu kaufen.
    Sein Vater dagegen sieht ihn als Diplomaten, für die Menschenrechte arbeitend, sich für Afrika einsetzend.
    Wahnsinn. Ich stelle ihm immer noch mehr Fragen nach seiner Herkunft, vor allem, weil ich es verdammt spannend finde, aber auch, um nicht über mich reden zu müssen. Seltsamerweise will er das nicht zulassen und fragt hartnäckig nach meiner Lebensgeschichte. Na ja, die ist in sieben Sekunden erzählt. Mein Vater ist Kunsttischler und Restaurator und hat eine eigene kleine Firma. Meine Mutter ist Krankenpflegerin und arbeitet halbtags in einem Seniorenheim. Und ich stehe kurz vor der Matura und will mich im Herbst an der Kunstakademie bewerben.
    Komischerweise ist er davon genauso beeindruckt wie ich von seiner Biografie.
    Â»Kunst«, sagt er. »Das ist echt mutig. Wollen deine Eltern gar nicht, dass du irgendwas, na ja, was Handfestes studierst?«
    Â»Wollten sie schon. Aber ich hab ihnen so lange unauffällig Zeitungsartikel über arbeitslose Akademiker untergeschoben, dass sie sich schließlich gedacht haben, es ist vollkommen egal, was ich studiere, weil sie mich in jedem Fall durchfüttern müssen bis an ihr Lebensende.«
    Er lacht und wieder spür ich so was wie Stolz. Ich mag sein Lachen, es kommt von tief unten und breitet sich in einer großen Welle über seinen ganzen Körper aus. Ich kann nicht anders als seine Kopfform bewundern unterden ganz kurz geschnittenen krausen Haaren, seine Nase mit dem schmalen Rücken, die zum Gesicht hin und bei den Nasenflügeln ziemlich breit wird. Ich würde ihn wahnsinnig gern zeichnen.
    Â»Hast du die Seventies-Ausstellung gesehen?«, frage ich ihn.
    Â»Klar«, lacht er. »Ich bin stundenlang auf der Treppe gestanden, du weißt schon, wo die vielen Poster hingen, und hab versucht, die psychedelischen Schriften zu entziffern.«
    Jetzt wird er mir wirklich langsam unheimlich. Ich hab nämlich genau dasselbe gemacht. Plattencover, Poster, Konzertankündigungen. Und auf allen diese Fantasieschriften. Dicke, aufgeblasene Schlangenbuchstaben, die ineinanderfließen, und verzerrte Hintergrundteppiche mit winzigen, tausendmal vervielfachten Symbolen. Ich kriege Kopfweh, wenn ich nur dran denke.
    Ich erzähl ihm das und er lacht wieder und meint, es ist eigentlich erstaunlich, dass wir uns nicht schon früher über den Weg gelaufen sind.
    Für mich ist an diesem Nachmittag einiges noch viel erstaunlicher. Dass wir bis in den Abend hinein sitzen und reden und ich schließlich diejenige bin, die zum Aufbruch drängen muss. Dass Marcus mich fragt, ob ich Lust habe, in der nächsten Woche mit ihm ins Kunsthaus in die neue Fotoausstellung zu gehen. Oder in die Chagall-Ausstellung im Kunstforum. Oder am besten in beide. Dass das auch nicht nur Gerede ist, sondern er mir ernsthaft seine Nummer gibt und mich um meine bittet. Dass er mir zum Abschied noch mal sagt, dass mein Vater ein sehr kluger Mann ist. Ich bin einen Moment verwirrt.
    Â»Deine Augen«, erinnert er mich. »Sie sind echt schön.«
    Warum, frage ich mich, als ich später in meinem Zimmer im Bett liege, die Arme im Nacken verschränkt und an die Decke starre, auf die die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos ihre Lichtstreifen werfen.
    Ist heute vielleicht in Côte d’Ivoire der »Tag des dicken Mädchens«? Ist er bei den Pfadfindern oder will er mich für eine Sekte ködern? Was auch immer seine Gründe waren: Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt habe.
    Mama hat mich gleich besorgt gefragt, ob ich krank bin, weil ich mir nur eine kleine Portion von der Lasagne genommen hab. Krank! Ihr armes Einhundertneunzehn-Kilo-Baby isst nicht, also muss es krank sein.
    Ich lass einen Riesenseufzer raus. In diesem Haushalt abzunehmen, ist echt nicht leicht. Aber Mama kann schließlich auch nicht aus ihrer Haut. Sie ist gebürtige Serbin und die serbische Küche ist nun mal keine leichte. Was Oma ihr beigebracht hat, ist, einen Mann nach der Arbeit ordentlich satt zu kriegen. Lasagne ist bei uns schon so was wie ein Diätessen. Wenn’s was »Richtiges« gibt, gibt’s Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat oder Rindsbraten mit Nudeln und Saft. Gemüse mögen wir

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