Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
Vom Netzwerk:
über sie lustig zu machen, selbst wenn das nur im inneren Kino stattfindet. Und drittens: Selbst wenn dein Kopfkino nicht so respektlos wäre – deine absurden Vorstellungen lenken dich immer vom Wesentlichen ab! Super, jetzt habe ich schon wieder ewig nicht zugehört.
    Als Nächstes kommt mein Patient, da ist Träumen unmöglich. Manuels Werte sind gut, Dr. Ross fragt mich nur, wann ich ihn entlassen möchte. Ich könnte »morgen« sagen. Diese Nacht noch hierbleiben, morgen nach dem Frühstück Transport nach Hause. Gegen 7:30, meine Schicht beginnt um acht. Dann müssten wir uns heute verabschieden. Heute ist Montag. Vier Tage bis Samstag.
    Â»Am Mittwoch«, sage ich. »Gleich nach dem Frühstück werfen wir ihn raus.«
    Â»Endlich!«, sagt Manuel laut, Marie-Luise nickt ihm mitleidig zu. Kein Mensch würde darauf kommen, dass wir nach seiner Entlassung verabredet sind. Leider.
    Der Besuch bei Frau Klein verdrängt die Gedanken an Manuel. Sie ist noch schwächer geworden, hustet stark. Doch auf Dr. Ross’ Frage erklärt sie wie immer, es gehe ihr besser. Okay, dann muss ich jetzt wohl doch einschreiten. Wenn Dr. Ross nur abhakt und weitergeht, muss ich etwas sagen. Doch Frau Kleins starker Husten ist heute so aufdringlich, dass er sie Lügen straft. Dr. Ross setzt die Antibiotika-Dosis hoch und ordnet ein neues EKG an. Ich bin ihr richtig dankbar. Mann, Lena, hast du wirklich gedacht, sie wäre inkompetent? Ganz schön überheblich, was?
    Â»Da müssen wir ein bisschen aufpassen«, sagt Dr. Ross zu mir. Ich nicke. Wir verstehen uns. Dr. Ross klopft bekräftigend auf ihr Klemmbrett. »Risikogruppe, alt, immungeschwächt. Da liegt die Rate bei fast 30 Prozent.«
    Mir bleibt die Luft weg. Was Dr. Ross meint, ist die Sterblichkeitsrate. 30 von 100 Patienten mit Frau Kleins Risikofaktoren sterben an ihrer Lungenentzündung. Ich kann nur beten, dass Frau Klein das nicht verstanden hat. Wie herzlos, so was zu sagen! Ich hasse sie.
    Dr. Ross sieht meinen erschütterten Blick, versteht ihn typisch-unsensibel falsch und lächelt: »Vor gut hundert Jahren waren es noch über 90 Prozent! Es lebe der Fortschritt!«
    Es lebe der Maulkorb, du blöde Kuh! Zum Glück scheint unsere Patientin Dr. Ross’ taktlose Belehrung nicht verstanden zu haben. Ich hasse sie trotzdem!
    Die Letzte auf unserem Rundgang ist die Kuh auf der 17. Ich bin gespannt, ob sie mit der Stationsärztin auch nicht redet. Bei der könnte Dr. Ross doch mal kaltschnäuzig sein! Doch Dr. Ross hält die Tür auf und kündigt Frau Schwab rücksichtsvoll unseren Besuch an. Sie bekommt keine Antwort, aber statt entschlossen aufzutreten, schleicht Dr. Ross so leise ins Zimmer, dass wir unwillkürlich auch auf Zehenspitzen gehen. Dr. Ross öffnet dieAkte und sagt: »Paula Schwab, 34, Magenkarzinom. Noch keine Nebendiagnosen.«
    Ich weiß nicht, ob ich mich je so mies gefühlt habe. Wie konnte ich mich so wichtig nehmen, alles auf mich beziehen? Hat Paula Schwab nicht alles Recht der Welt, zu schweigen, abzuweisen, zu hassen? Wie würde ich auf so eine Diagnose reagieren? Unbewusst habe ich immer das Gefühl, alle Krankheiten beherrschen zu können. Ich kenne die Symptome, die Prognose. Manche Diagnosen sind leichter zu überbringen, andere sind furchtbar. Dann muss man Mut machen, darf aber keine falschen Hoffnungen wecken. Trotzdem ehrlich sein. Dafür gibt es Verhaltensempfehlungen. Man weiß also genau, was zu tun ist. Trotzdem habe ich keine Ahnung, wie es sich anfühlt, so eine Diagnose gestellt zu bekommen. Aber ist das nicht der wichtigste Teil im Umgang mit dem Patienten? Zu wissen, wie es sich anfühlt?
    Nach der Visite zerstreuen wir uns recht betreten, das Schicksal der jungen Frau macht uns allen zu schaffen. Ich schlurfe über den Gang, das Mitleid und die Schuldgefühle wegen meines unsensiblen Umgangs mit der Patientin sind wie Betonschuhe; ein Wunder, dass meine schweren Schritte nicht das Linoleum abschleifen. Was für ein langer, anstrengender Tag. Und leider: Erfahrungsgemäß kann ich noch wenigstens eine Herausforderung erwarten. Ich habe es selten erlebt, dass ein solcher Tag plötzlich ab vier ins Abwärmprogramm schaltet und friedlich ausplätschert – meistens kommt noch was nach.
    Bei mir ist es der Oberarzt, der nachkommt. Dr. Thalheim holt mich auf dem Gang vor seinem Büro

Weitere Kostenlose Bücher