Miss Emergency
ihm sitze. Erst jetzt wird mir klar, warum ich mich nicht von ihm lösen kann: Heute ist Freitag. Die ganze Zeit habe ich meine Gedanken auf das Morgen gerichtet, eine neue Begegnung, eine neue, gestohlene, gemeinsame halbe Stunde. Werden wir uns am Wochenende überhaupt sehen?
Er schaltet das Radio ein, sucht einen Sender, entscheidet sich für Pink Floyd. Die Musik trägt uns durch die Dunkelheit, verlangsamt alles ringsum. Ich wünsche mir wieder das riesige Nudelholz, das die Straßen streckt – oder dass wir einfach weiterfahren.
»Wo kämen wir hin, wenn wir jetzt immer weiter geradeaus fahren würden?«, frage ich leise.
Er lächelt. »Nach Polen. Möchtest du dahin?«
Ich überlege, muss grinsen. Ein perfektes Wochenende. »Die polnische Ostsee ist wunderschön, gerade im Herbst«, sagt er. »Wenn wir langsam fahren, könnten wir zum Sonnenaufgang ankommen.« Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er dieser Laune einfach nachgibt. Doch im nächsten Moment biegt er in meine Straße ein. Ich bin ganz ungerecht enttäuscht.
»Warum eigentlich nicht?«, sage ich mutig. »Keiner würde merken, wo wir das Wochenende verbracht haben.«
Er sieht mich an. »Das wäre herrlich …« Los, komm schon, wir fahren einfach! Keine Konjunktive für uns!
»Aber ich habe Dienst«, setzt er hinzu.
Aha. Du verbringst das Wochenende in der Klinik – und ich? Tobias nimmt mein Gesicht in seine Hände, küsst mich zum Abschied. »Irgendwann machen wir das. Versprochen.« Wann IST irgendwann? Ich kann mich noch nicht trennen. Ich wünschte, er könnte wenigstens mit hochkommen, noch eine Weile in meiner Küche sitzen, so gut riechen, erzählen. Stattdessen steigt er nicht mal aus dem Auto aus. Klar, oben sind Isa und Jenny und ich weiß nicht, für wen es unangenehmer wäre, wenn ich daraus eine gemeinsame Tischrunde arrangieren wollte. Wird es denn nie normal sein?
»Du verstehst das, oder?«, fragt er lieb. »Wir machen mal wieder einen Ausflug.« Es ist November, Herr Oberarzt. Meinst du einen Skiausflug? Flucht nach vorn, Lena!
»Oder du zeigst mir deine Wohnung?«
Er lächelt. »Ein andermal.« Ein letzter Kuss, dann stehe ich wieder auf der Straße und sehe dem grünen Wagen nach.
Oben in der Wohnung ist der Küchentisch besetzt; Isa und Tom kochen Spaghetti und Tom plant sein neues Leben. Immer wieder sagt er Dinge wie: »Meine Küche nehme ich sicher nicht mit, der Nachmieter kann das alte Ding haben« oder »In einem Monat sind wir sicher schon Weißwurst-Experten.« Die arme Isa wird jedesmal einen Zentimeter kleiner. Merkt Tom das nicht?
Weil Jenny schon wieder unterwegs ist – diesmal mit dem schicken Björn –, bin ich die Einzige, die dem Paar beim Essen Gesellschaft leistet. Tom spricht weiter über München und grübelt, welchem Fußballverein er dann neben Hertha die Treue halten soll. Isa wird immer stiller. Tom scheint keine Sekunde drüber nachzudenken, wie seine Beziehung die sechs Bahnstunden Entfernung überstehen soll. Er hat offenbar nicht vor, sich wegen des Jobs von Isa zu trennen, spricht aber auch nicht darüber, wie das gemeinsame Leben eingerichtet werden soll, wenn sie Hunderte von Kilometern auseinanderwohnen.
»Wie denkt er sich das?«, frage ich, als Tom geht, um einem potenziellen Nachmieter seine Wohnung schmackhaft zu machen.
Isa zuckt die Schultern. »Das wird schon, sagt er immer. Ich weiß nur nicht, wie …«
Ich fordere vehement, dass Isa das Thema endlich anspricht – nur bitte nicht, solange ich danebensitze. Plötzlich sind wir beide irgendwie traurig. Wir bedauern uns gegenseitig für unsere Beziehungen mit Einschränkungen … und schaffen es, uns blitzschnell in das allertiefste Selbstmitleid hineinzusteigern.
»Eine Beziehung, in der man sich höchstens am Wochenende sieht – und das nicht mal regelmäßig – wie soll ich das aushalten?«, seufzt Isa.
»Was soll ich da sagen«, jammere ich zurück. »Ich habe eine –na ja – Affäre, bei der man sich jeden Tag sieht, ohne sich ansprechen zu dürfen, und nichts weiter hat als eine halbe Stunde im Auto!«
»Na und ich?!«, ertönt eine empörte Stimme von der Tür. Jenny. »Ich habe ZWEI Beziehungen, bei denen ich mich jeden Tag sehen lassen soll, und weiß bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Das trifft bei uns natürlich nicht auf Mitleid. Jenny isst die Spaghetti-Reste gleich aus dem Topf. »Seit ich zu Björn gesagt habe, dass ich auf meine Linie achten muss, bekomme ich bei seinen Dates
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