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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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Quietschen und anderen geheimnisvollen Geräuschen fortbewegen. Die Sitze waren auch nicht gepolstert, sondern nur mit aufgelegten Kissen ausgestattet, und wann immer der Wagen in eine ausgefahrene Spur geriet, eine Kurve passierte oder Mr. Cuff beim Fahrtempo eine Idee zulegte, befanden sich die Fahrgäste in ernster Gefahr, auf den Boden zu rutschen. Mrs. Tipton hatte sich gegen dieses drohende Unheil durch eine ausgeklügelte Verstrebung ihrer Stöcke gewappnet. Mary dagegen klammerte sich mit der einen Hand an den Rand ihres Sitzes und mit der anderen am ausgefransten Türhaltegurt fest.
    Solchermaßen wachsam sah Mary den Ereignissen des Tages entgegen. Wie deutlich Sonnenschein doch die Stimmung hob - Sonnenschein und vielversprechende Zukunftsaussichten. Ihren ersten Termin hatten sie bei der Schneiderin, Miss Cheadle, was in Mary sowohl Vorfreude erweckte als auch Besorgnis erregte. Ihre Garderobe war durchweg selbst geschneidert; die schlichten, praktischen Kleider aus nicht sehr hübschen, strapazierfähigen Stoffen wurden regelmäßig ausgebessert und gewendet. Kleidungsstücke ersetzte sie erst, wenn man sie nicht mehr tragen konnte, und nicht etwa nur, weil sie sie nicht mehr mochte. Mary sehnte sich nach einem schönen, modischen, hinreißenden Kleid - vielleicht auch nach mehr als einem -, schreckte indes vor den anfallenden Kosten zurück. Zwar konnte sich Miss Cheadles Maßschneiderei in Woodbridge nicht mit den Ateliers in Bath oder auch nur in Cambridge messen, dennoch sorgte sich Mary, sie könnte in puncto eleganter Kleidung als vollkommen unbedarft dastehen. Wurde von ihr erwartet zu wissen, ob man die Ärmel dieses Jahr lang oder kurz trug oder welche Farben derzeit in London als besonders elegant galten? Und was, wenn sich herausstellte, dass sie einen schlechten Geschmack hatte? Keinen Sinn für Eleganz und Stil? Eine hoffnungslose Vogelscheuche war?
    Aber im Grunde erwiesen sich ihre Sorgen als vollkommen unbegründet, denn Mrs.Tipton hatte keineswegs die Absicht, ihr mehr als eine Statistenrolle zuzugestehen. Zwar bereitete es Mrs. Tipton zunächst gewisse Schwierigkeiten, überhaupt in Miss Cheadles Schneiderei zu gelangen, denn der Zugang war matschig und der Laden selbst winzig klein, doch als sie endlich in einem bequemen Sessel platziert war, übernahm sie das Regiment.Wie sich herausstellte keineswegs zum Schaden von Mary, denn Mrs. Tipton hatte bezüglich der Garderobe einer jungen Dame zwar recht altmodische, aber klare Vorstellungen, und wie in allen anderen Bereichen äußerte sie auch in puncto Kleider, Blusen, Reifröcke, Strümpfe und Schnupftücher ihre Meinung mit knappen Worten und entschiedenem Ton. Die arme Miss Cheadle geriet völlig durcheinander ob ihrer unermüdlichen Forderungen nach weiteren Stoffballen, Musterknöpfen, Schleifen und diversen Modezeitschriften mit Skizzen zu allen Details, von unterschiedlichen Halsausschnitten bis hin zu Säumen. Die ganze Mühe zahlte sich jedoch aus: Eine üppige Bestellung von Kurzwaren, die nach Lindham Hall geschickt werden sollten, sobald Miss Cheadle und ihre Helferinnen alles fertig gestellt hatten, war das Resultat ihres Besuchs.
    Mrs. Tipton mochte keine Halbheiten, und dazu war sie noch von dem Wunsch beseelt, Mary angemessen in die bessere Gesellschaft von Woodbridge einzuführen. Leider war der unglückselige Vorfall in White Ladies bereits in aller Munde, und auch Marys Anstellung bei Mrs. Bunbury sprach nicht gerade für sie. Mary konnte es sich einfach nicht erlauben, weiterhin aus dem Rahmen zu fallen. Ein paar Meter Seide, Spitze und Satin konnten sie indes durchaus ein gutes Stück weiterbringen, um sich als eine standesgemäße junge Dame zu präsentieren. »Selbstverständlich ist Sparsamkeit eine äußerst wünschenswerte Tugend«, erklärte Mrs. Tipton. »Man darf sich nie verschulden oder durchblicken lassen, dass man nicht gut wirtschaften kann. Aber es muss vollkommen natürlich wirken; über Pfennigfuchserei zu sprechen ist furchtbar … erniedrigend.« Sie wartete auf Marys zustimmendes Nicken und fügte dann etwas freundlicher hinzu: »Ihr Hut tut es für den Moment, aber wir müssen uns um Schuhwerk kümmern. Ihre Stiefel sind eine Katastrophe.«
    Mary mochte es nicht, derart inspiziert zu werden, und auf der kurzen Fahrt zum Schuster und von dort zu Mr. Todds Kanzlei fühlte sie sich unbehaglich. Alle Passanten schienen sie anzustarren, und als Mrs. Tipton dann auch noch umständlich und mit

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