Miss Seeton und der Hexenzauber
Diese, unsere Welt existiert nicht. Ah« – er machte eine Pause und überblickte die Zuhörerschaft –, »das überrascht euch. Aber ich sage euch, es ist wahr. Ihr denkt in materiellen Dimensionen und nehmt nur Grobstoffliches wahr, aber sobald ihr euren Geist von dieser trügerischen Illusion befreit und die reine Erkenntnis erlangt habt oder das Nirwana …«
Miss Seeton runzelte verunsichert die Stirn. Diese fremdartigen Ausdrücke, wirklich schwierig. Wie buchstabierte man das?
»… werdet ihr herausfinden, daß es nur eine Illusion gibt
– die Große Illusion. Die Welt, wir selbst und alles, was uns umgibt – das alles ist nichts anderes als die Reflexion von Gott, dem allmächtigen Schöpfer. Maya, das Prinzip der Illusion, das die Realität leugnet, oder Om. Wenn ihr Maya erreicht habt, könnt ihr eure wahre Bestimmung verwirklichen und die Illusion als Reflexion Gottes verehren.« Für einen Moment stand er reglos da und starrte in die Ferne. Dann: »Ewiges Leben. Ewig …« wiederholte er langsam. »Niemals sterben. Der westliche Traum – die östliche Realität. Niemals zweifeln ist Realität, eine Realität, die all diejenigen verstehen, die Glauben und Ausdauer haben.
Ihr werdet fragen: Was hat das alles mit Freiheit zu tun?
Meine Antwort lautet: Mukti.«
»Hört, hört«, brummte Sir George spöttisch – er hatte dieselben Schwierigkeiten mit dem Sanskrit wie Miss Seeton.
»Mukti«, erklärte der Redner, »bedeutet Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod; eine Seele in Freiheit.
Es ist ein Zustand, den jedes menschliche Wesen erreichen kann – ein Zustand, der von vielen in der östlichen Welt erreicht wurde. Ich selbst habe im Fernen Osten mit Mystikern zusammengearbeitet, die älter als die Jahrhunderte sind, mit Männern, die die Gedanken ihrer Mitmenschen kennen, ehe die Gedanken Form annehmen, und ihre Handlungen voraussagen können, bevor die Idee zu dieser Handlung im Geist entsteht. Manche von euch werden vielleicht darüber lächeln, aber das, was ich euch klarzumachen versuche, ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache. Es gibt vieles, was ich euch nicht erzählen kann, weil ich nicht dazu befugt bin, aber zu einem hat man mich ermächtigt: Ich darf in der westlichen Welt die wichtigsten Lehren in verkürzter Form – in Nuscience – verbreiten. Man könnte sagen, ich bringe euch eine Kurzversion der ewigen Wahrheit. Auf meine ausdrückliche Bitte hin habe ich zudem die Erlaubnis erhalten, denen, deren Bewußtsein und höheres Selbst ich erkenne, die Geheimnisse des ewigen Lebens zu offenbaren. Einigen von uns« – er schüttelte tadelnd den Kopf – »verstellen fleischliche Gelüste den Blick auf Maya. Aber das ist nur eine andere Facette der Angst, von der ich gesprochen habe – und ich habe euch gesagt, daß ihr nichts zu fürchten braucht. Denkt daran, daß viele der großen Heiligen weit davon entfernt waren, ein tadelloses, reines Leben zu führen, ehe sie ihre wahre Bestimmung erkannt und erfüllt haben. Fürchtet euch nicht vor der Sünde. Die Sünde ist das Erbe der Menschheit, von dem sie Erlösung erlangen muß. Solange ihr nicht die wirkliche Natur der Sünde erkennt, ist Erlösung unmöglich. Fürchtet euch nicht vor sündigen Gedanken und Taten, denn ohne sie könnt ihr nicht geläutert werden. Ein altes, aber wahres Sprichwort sagt, daß es ohne Sünde keine Reue gibt. Wir schauen auf« – er hob den Blick, um zu zeigen, was er meinte – »und sehen die reife Frucht hoch oben, aber wir können diese Frucht nicht erreichen, weil wir mit schweren Ketten auf dem Boden gehalten werden. Meine lieben Freunde« – er breitete die Arme aus, ein goldener Ring glitzerte an seinem Finger –, »werft diese Ketten endlich ab. Erhebt euch als freie Menschen und pflückt diese süße Frucht, die euch von Geburt an zusteht … Habe ich gesagt, von Geburt an?« fragte er nach.
Ja, das hat er gesagt, dachte Miss Seeton.
»Habe ich gesagt, von Geburt an?« erkundigte er sich noch einmal.
Vielleicht sollte ich ihn in aller Freundlichkeit darauf hinweisen, daß genau dies seine Worte waren, überlegte Miss Seeton.
»Die Welt an sich ist ein einziges großes
Mißverständnis. Wir werden nicht geboren«, machte er seinen Zuhörern klar. »Wir kehren nur immer wieder für eine bestimmte Zeitspanne, einen kurzen Augenblick, gemessen an der Ewigkeit, hierher zurück. Für einen Augenblick«, betonte er, »einen endlichen Moment, der schnell
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