Miss Seetons erster Fall
wie den anderen, irrtümlicherweise für Lebel halten, wenn man nach dem Foto in den Zeitungen ging – selbst aus ziemlicher Nähe.
»Aber es ist wahr, ich sag’s dir doch.« Angelas Stimme, hell und klar und fiebrig-aufgeregt.
»Es ist bloß sechs Meilen von hier«, sagte eine andere Mädchenstimme.
»’ne richtige, echte Berühmtheit – das muß man gesehen ham. Wolln wir hin, sie besichtigen?«
»Eine Superidee! Ich habe sie schon längst kennen lernen wollen.« Angelas Stimme übertönte die Entzückensschreie der beiden anderen Mädchen.
Vier der jungen Männer verstärkten den Chor, aber einer bremste. »Ist doch Quatsch – so spät in der Nacht. Sie schläft bestimmt schon.«
»Na und? Dann wecken wirse eben. Oder isse taub oder so was?«
Zustimmung klang auf. »Ja, machen wir«, rief Angela. »Los, fahren wir hin.«
»Ihr seid blöd, sag ich euch«, protestierte der andere. »Sie wohnt direkt an der Dorfstraße. Wir bringen das ganze Kuhdorf gegen uns auf.«
Eine Diskussion entspann sich, die der Neue abrupt beendete. »Ich will trotzdem mal sehn, wo euer Star wohnt«, sagte er eigensinnig.
»Und wennse so verflucht früh in die Heia geht, fahren wir eben bloß vorbei. Wir können ja aufblenden und hupen, als Salut, oder so was.«
»Also los«, rief Angela. »Ich fahre voran. Wir machen die Runde um die Marsch und kommen von der anderen Seite. Dann habt ihr gleich die richtige Richtung für die Heimfahrt.« Sie lief zu ihrem Wagen, stieg ein und ließ den Motor an. Die anderen kletterten lärmend in die übrigen Autos, nur der Neue ging, von seinem schweigsamen Kumpan begleitet, auf einen näher am Eingang parkenden Wagen zu.
Nigel hielt den Atem an, als Angelas Auto mit quietschenden Reifen scharf rechts in die Landstraße einbog, dicht dahinter die ihrer Freunde und, als Schluß, der Wagen des Unbekannten. Er kroch aus seinem Versteck, sah sich rasch um – niemand in Sicht –, warf die Kissen über den Zaun, sprang hinüber und hob sie auf. Ob er die Polizei anrufen sollte? Wenn die Clique in Fahrt kam, konnten die alles Mögliche anstellen. Andererseits machten sie alle in dieser Nacht einen ziemlich harmlosen Eindruck, und der, den er unter dem Namen ›Art‹ kannte, hatte gebremst – zumindest wollte er nicht das ganze Dorf alarmieren. Nigel kam zu dem Schluß, daß vermutlich nichts passieren würde und daß er, da sie einen Umweg machten, das Dorf beinahe ebenso rasch erreichen würde. Blieb alles ruhig, würde er gar nicht anhalten, sondern gleich nach Hause fahren. Ja. Er wollte es riskieren. Er rannte auf den Wagen zu, warf die Kissen auf die Rücksitze und rutschte hinter das Steuer.
Du lieber Himmel, was war das?
Aus dem Schlaf aufgeschreckt, wußte Miss Seeton im ersten Augenblick nicht, wo sie war.
Ach so. Die Hühner, natürlich. Was für ein Gezeter. Nein, wirklich – unerhört. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in die Pantoffeln, zog den Morgenrock über und hastete die Treppe hinunter. Ohne mit Lichtanknipsen Zeit zu verlieren, zog sie, als sie am Schirmständer vorbeieilte, instinktiv den Schirm heraus, riegelte die Außentür auf und lief in den Garten hinaus. Wirklich unerhört. Wie gemein die Leute waren. Natürlich, Nigel hatte sie gewarnt. Die Hühner derart aufzuregen. Na, dem würde sie ein Ende machen. Gott sei Dank schien der Mond hell genug, so daß man sehen konnte, wohin man trat. Der arme Stan – er würde sich fürchterlich ärgern.
Das Gezeter im Hühnerstall ging in gleicher Lautstärke weiter. Miss Seeton hatte den Auslauf erreicht. Mit dem Schirm schlug sie gegen die Tür im Maschendraht.
»Lassen Sie das«, rief sie. »Hören Sie sofort damit auf! Verstanden?«
»Aber ja doch, Lady. Ich versteh schon.« Sie stutzte. Ein Schatten trat hervor, eine Hand griff durch den Draht und hakte die Tür auf. Da er im Gegenlicht stand, konnte Miss Seeton nur den Umriß eines Mannes mit Mantel und tief heruntergezogenem Hut erkennen. Aber das Mondlicht schimmerte auf dem Lauf der Pistole, die er in der Hand hielt.
»Immer mit der Ruhe, Lady. Marsch, marsch zurück ins Haus und hübsch leise, kapiert?«
»Lassen Sie die Albernheiten«, fauchte sie. »Und nehmen Sie das Spielzeug weg, oder ich rufe die Polizei.« Sie schlug ihm mit dem Schirm haargenau aufs Handgelenk. Ein Blitz. Ein Knall. Ein Aufschrei, gemischt aus Wut und Schmerz. Die Waffe fiel zu Boden.
»Ogottogott«, rief Miss Seeton erschrocken. »Entschuldigen Sie, ich habe nicht geahnt.
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