Miss Seetons erster Fall
nicht, was ich erwarte, aber ich habe den Verdacht, daß Miss Seeton, ohne es zu wissen, für übersinnliche Einflüsse empfänglich ist. Aber ob sie sich diesmal beim Zeichnen über ihre Gedanken klar wird und uns sagen kann, was sie denkt, oder ob die Zeichnung selbst etwas enthält, das uns weiterbringt – das alles ahne ich nicht. Kommen Sie, gehen wir hin, und stellen wir es fest.«
Als sie auf die Terrassentür zugingen, konnten sie Miss Seeton bei der Arbeit sehen. Versunken arbeitete sie mit Kohle, verrieb und schattierte mit Daumen, Fingern und Wattebäuschen. Delphick und Bob Ranger blieben stehen und sahen ihr zu. Nach ein paar Augenblicken lehnte sie sich zurück, betrachtete die Skizze, nahm dann ein Stück Kohle, strich damit quer über den oberen Rand des Blattes und verteilte die Kohle mit dem Handballen. Dann schob sie den Stuhl zurück, stand auf und besah das fertige Werk. Delphick trat vor. »Dürfen wir hereinkommen?«
Sie drehte sich um, stutzte und sah sie verständnislos an. Dann: »Oh, Superintendent. Ja, natürlich, kommen Sie herein. Ich wollte mir gerade die Hände waschen. Kohle ist nicht das sauberste Material.« Sie zeigte ihre schwarzen Hände vor. Sogar im Gesicht hatte sie ein paar Kohletupfer. »Ich bin gleich wieder da.«
Nachdenklich standen sie vor dem Chaos auf dem Schreibtisch. Obenauf lag die Kohlezeichnung, an der sie Miss Seeton hatten arbeiten sehen. Na ja, jeder Schuß trifft eben nicht, dachte der Sergeant. Diesmal hatte das Orakel eine Niete gezogen. Oder vielmehr Miss Seeton. Während sie im Garten spazieren gegangen waren, hatte sie ein paar Familienporträts von den Vennings zeichnen sollen. Aber das hatte- sie vergessen. Statt dessen hatte sie eine Landschaft produziert. Eine ziemlich düstere Gegend übrigens. Gut gezeichnet, vermutlich – aber leben würde er dort nicht gern. Diese hohen Berge im Hintergrund, mit dem dunklen Himmel darüber. Es war. unheimlich. Ja, das war das richtige Wort. Unheimlich. Und die Klippe links. nein, eigentlich keine Klippe, ein Felsen. Nur der eine Lichtstrahl, der auf herabtropfendes Wasser fiel – in Wirklichkeit zwei Bäche, aber der eine verschwand auf der anderen Seite. Der Lichtstrahl ließ noch den Teich unten aufleuchten, wo – Allmächtiger – ein Mädchen hingestürzt dalag und eine Flasche oder so etwas hatte fallen lassen, die kaputtgegangen war. Das Mädchen. ob es noch lebte? Es sah aus, als läge es halb im Wasser. Ziemlich deprimierend das Ganze. Nicht seine Kragenweite, ganz und gar nicht.
Delphick zog ein Blatt Papier unter der Zeichnung hervor. Bob gluckste. Das war schon besser. Das konnte man wenigstens verstehen. Eine flüchtige Federzeichnung, nur ein paar energische Striche. Auf einem Rednerpult, hinter einem Tisch, über dem anstelle einer Fahne eine Bürgermeisterkette wie eine Girlande aufgehängt war, hielt ein dicker, aufgeblasener Mann eine Ansprache, in der hocherhobenen rechten Hand ein Tablettenröhrchen: Eine boshafte Karikatur von Mr. Trefold Morton in der Rolle eines Quacksalbers.
Delphick lachte noch, als Miss Seeton zurückkam. »Wer ist der Herr, den Sie nicht leiden können?«
»Oh«, rief Miss Seeton erschrocken. »Das sollten Sie gar nicht sehen.« Vorwurfsvoll blickte sie ihn an. »Es hat unten-drunter gelegen.«
»Ich weiß«, sagte Delphick. »Aber eine Ecke guckte heraus, und ich war zu neugierig. Sehr witzig, die Zeichnung.«
»Nicht nett von mir, zugegeben«, erklärte Miss Seeton. »Aber er hat mich in Grund und Boden geredet. Das ist der Anwalt meiner Tante. Ich mußte heute morgen wegen des Testaments zu ihm, und er wollte mir unbedingt Tabletten für meine Kopfschmerzen geben. Ich wollte sie gar nicht, aber es war einfacher, sie anzunehmen, als sich mit ihm herumzustreiten.«
Der Superintendent überlegte: Die Karikatur war zweifellos witzig. Und doch. Ein Schwindler, wenn er je einen gesehen hatte. Und wie merkwürdig, daß auf beiden Zeichnungen ein Medizinfläschchen oder -röhrchen auftauchte. Reiner Zufall? Ein bißchen Bohren würde sich vielleicht bei diesem Herrn lohnen. Ein paar Erkundigungen über seine Finanzlage und über die seiner Klienten. Aber bei einem Anwalt mußten derartige Erkundigungen sehr diskret eingezogen werden.
Er legte die Skizze hin und betrachtete die Kohlezeichnung. Miss Seeton beobachtete ihn unruhig. »Ich weiß nicht, ob es sehr klar ist. Hilft es Ihnen überhaupt?«
»O ja. Ich glaube, schon.« Der Sergeant sah ihn überrascht an.
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