Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
Vom Netzwerk:
Sie ließ sich ihm gegenüber zwar nichts anmerken, aber er kam sich trotzdem vor wie ein Anker, der an ihre Taille gekettet war - und doch war es undenkbar für ihn, allein in einer eigenen Wohnung zu leben. Im Grunde spürte John unter Doris' Schätzchen!-über frachtetem Gehabe auch eine verschleierte Feindseligkeit -deren Ursprung er nicht recht identifizieren konnte. Bis Doris eines Abends, kurz nachdem John aus dem Equator-Pictures-Büro heimgekehrt war - um fünf vor sieben, rechtzeitig zu den Fernsehnachrichten -, schlecht gelaunt zur Tür hereinkam. Ihr Wagen war aufgebrochen worden, während sie mit einer Freundin bei Kate Mantili essen war, und ihr Lieblingskleid, das sie gerade von der Reinigung abgeholt hatte, sowie eine Kameen-Brosche, an der sie sehr hing und die sie in dem Getränkehalter am Armaturenbrett aufbewahrte, waren gestohlen worden. Sie hatte sich in die Finger geschnitten, als sie die Glasscherben, die auf dem Fahrersitz verstreut waren, entfernte, und dann war sie zu Bullock's gefahren, wo sie mit einer weiteren Freundin verabredet war. Dort stellte sie, nachdem sie lange Schlange gestanden hatte, fest, dass ihre Kreditkarten und ihr Personalausweis ebenfalls geklaut waren. Sie fürchtete, Alzheimer zu bekommen, weil sie das nicht früher bemerkt hatte. Sie bekam einen Wutanfall und missachtete auf der zornentbrannten Fahrt zur Polizeiwache eine rote Ampel, wofür sie sowohl einen Strafzettel aus auch eine Standpauke von einem Verkehrspolizisten bekam. Sie war auf hundertachtzig.
    »O Gott, ich brauche unbedingt einen Drink«, stieß sie aus, während sie zielstrebig auf die Hausbar zusteuerte. »Du auch?« John lehnte ab. »Hab dich bloß nicht so mit deiner Abstinenz, John.«
    »Ich - trinke - nicht - mehr«, sagte er mit Nachdruck. »Was bist du doch für ein Heiliger.«
    Aus dem Augenwinkel beobachtete John Doris, wie sie sich einen Cinzano einschenkte, ihn herunterstürzte, sich noch einen einschenkte, diesmal mit einer Zitronenscheibe, ihn herunterstürzte und sich dann, schon etwas entspannter, einen dritten einschenkte. Er fragte sich, was mit ihr los sein mochte, aber er wollte die Nachrichten nicht verpassen. Doris beobachtete John, der in verkrampfter Haltung kerzengerade auf einem Hocker saß und sich Berichte aus irgendeiner kriegsgeplagten ehemaligen sowjetischen Provinz anschaute, vom anderen Ende des Zimmers. Es war, als wäre er wieder sechs Jahre alt und krank und versuchte, ein braver kleiner Junge zu sein. Die Emotionen, die sie wegen ihres verkorksten Tages überwältigt hatten, machte eine Kehrtwende von 180°, und ohne Vorwarnung flog ihr Herz zurück in das Jahrzehnte zurückliegende New York, als John noch das Kind war, das sich danach sehnte, nicht krank zu sein und ihr nicht zur Last zu fallen.
    Die Jalousien waren geschlossen, aber die Spätnachmittagssonne sickerte wie Sirup durch die Ritzen. Doris hatte das Gefühl, die heiße gelbe Luft würde sich wie warme Gelatine auf ihrem Körper ausbreiten, falls sie sich nach draußen wagen sollte. Sie seufzte, und plötzlich war ihr nicht mehr danach zu trinken. Sie fröstelte und fühlte sich alt. Sie hätte John am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Sie hätte ihn am liebsten in den Arm genommen, ihn wegen seines Leichtsinns ausgeschimpft und ihm gesagt, wie sehr sie sich wünschte, dass sie dort draußen bei ihm gewesen wäre, draußen in den Ebenen und Marschen und Bergen und Schluchten, und Gott oder die Natur oder gar die Sonne angefleht hätte, die Last der Erinnerungen und das Gefühl auszulöschen, ein Leben gelebt zu haben, das einem schon von Anfang an viel zu lang vorkam. Sie rief seinen Namen: »John ...« Er sah sich um. »Ja, Ma?«
    »John ...« Sie rang nach Worten. John schaltete den Ton weg.
    »John, als du fort warst - auf deiner Wanderung vor ein paar Monaten, hast du ...«
    »Hab ich was, Ma?«
    »Hast du ...« Wieder stockte sie.
    »Was, Ma? Frag schon.«
    Doris blieb stumm.
    »Was ist los, Mom?« Langsam wurde er unruhig. Und dann strömte es einfach in einem einzigen Schwall aus ihr heraus: »Hast du denn überhaupt nichts gefunden, als du weg warst? Irgendwas? Irgendwas, womit du mir das Gefühl geben könntest, dass es zumindest einen einzigen Grund gab, wie klein auch immer, der mich dafür entschädigt, dass ich all diese Nächte, die du fort warst, krank vor Angst war?« Doris sah, wie John die Augen fassungslos aufriss. Sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie so grob gewesen war,

Weitere Kostenlose Bücher