Missbraucht
kleine Regal, auf dem ein CD-Radio der ersten Generation und zwei dazugehörige Boxen standen. Den Mittelpunkt seines Wohnzimmers bildete eine durchgelegene blaue Eckcouch, auf der ein paar gelbe Kissen platziert waren. Davor standen ein runder blauer Tisch und ein ehemals zur Couch passender blauer Sessel, über den ein roter Überwurf drapiert war, da ansonsten dieses Möbelstück den Anforderungen eines neutralen Besuchers nicht mehr standgehalten hätte. Der Bezug der Armlehnen, auf denen Richard gewohnheitsmäßig seine Beine abzulegen pflegte, war total zerschlissen. Es war sein Fernsehsessel. An der gegenüberliegenden Wand hatte er sich aus unbehandelten sechs Zentimeter dicken Eichenbohlen ein vierbödiges Regal gebaut, auf das er besonders Stolz war. Die Natürlichkeit dieses Accessoires machte es aus. Der kleine Fernseher hatte ebenso seinen Platz darauf gefunden, wie der Videospieler und eine Anzahl Kassetten, auf die er seine Lieblingsfilme überspielt hatte. Ein Regalboden stand voll mit Büchern und der gesamten Ausgabe, aller bisher erschienenen Asterix Abenteuer. Davor ein schwarz gerahmtes Bild in Postkartengröße von Anna. Die beiden unteren Regalfächer wurden von seinem ganzen Stolz belegt. Ein hochwertiger Sony CD-Spieler mit Verstärker, jeder Menge loser CDs mit seiner Lieblingsmusik und einem monströsen Kopfhörer. Zwei schwarze Standlautsprecher flankierten das Regal. Die Wände waren bis auf ein größeres Bild seiner Tochter und einer blauen Pinnwand, die über einer weiteren, ihm als Schreib- und Leseplatz dienenden Eichenplatte hing, gänzlich leer. Davor stand ein schwarzer Chefsessel. Es war das wohl exklusivste und teuerste Möbelstück in seiner Wohnung. Wer in Richards Zuhause nach pflanzlichem Leben suchte, vergeudete seine Zeit. Weder eine Blume noch ein Strauch oder Ähnliches in der Art war vorhanden. Der Schönheit einer Blume konnte er weder in einer Vase noch im Garten etwas abgewinnen, er registrierte sie nicht einmal. Mit einer Yuccapalme oder einem ähnlich großen Gewächs konnte er sich besser anfreunden. Der Grund war weniger die Pracht der Pflanze, er fand sie einfach dekorativer und betrachtete sie eher wie ein Möbelstück. Aber da er immer dachte, je größer eine Pflanze, umso mehr Arbeit damit, verwarf er die Überlegungen, seine Wohnung damit zu schmücken schnell wieder. Dabei war Richard durchaus jemand, der sich gerne in der Natur aufhielt und sowohl im Winter als auch im Sommer ausgedehnte Spaziergänge entlang des Rheins unternahm. Eine gute Gelegenheit, um abzuschalten und sich seinen Tagträumen hinzugeben. Hinterher hatte er immer ein gutes Gefühl und das Bier schmeckte doppelt so gut.
"Ich warte im Wagen, aber beeile dich", sagte Sandra, als sie den Wagen geparkt hatte.
"Klar Mädchen, wird gemacht", Richard lächelte sie an.
Dass Anna seine Musik hörte, würde auch den Mitbewohnern nicht entgehen , dachte er, als er die Treppe hochkam. Axl Rose dröhnte volles Rohr aus seiner Wohnung. Er schloss auf und sah sie in seinem Schlafzimmer vor dem großen Spiegel stehen. Warum müssen Mädchen immer vor den größten Spiegeln stehen? Die Antwort gab er sich selbst. Weil sie hübsch waren und weil seine Anna, die hübscheste von allen war. Richard musste über seine Gedanken lachen. Er war glücklich seine Tochter zu sehen, so wie er immer glücklich war, wenn sie zusammen waren.
Anna war etwas klein geraten, ganze einhundertzweiundfünfzig cm. Sie hatte schönes, blondes, lockiges Haar, das ihr weit über die Schulter fiel. Man sah, dass ihre Mutter das Friseurhandwerk verstand. Annas braunen Augen strahlten hell und passten wunderbar zu ihrem frechen Lachen. Richard stellte fest, dass sie seit der Trennung ihrer Eltern gewichtsmäßig kontinuierlich zugelegt hatte, und beobachtete das mit etwas Sorge. Ihr Becken wurde fraulicher, was sowohl der Pubertät, als auch ihrer Faulheit geschuldet war. Richard ärgerte das. Deshalb legte er ihr immer ans Herz, aktiv Sport zu treiben. Bei einem jungen Mädchen muss dieser Wunsch mit wohlbedachten und besonnenen Worten geäußert werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass nur schwer zu kittende Risse, die Beziehung auf einen längeren Zeitraum belasten. Aus diesem Grund achtete Richard immer besonders auf seine Wortwahl. Sie war eine durch und durch positive Erscheinung und ein Segen für diese Welt. Anna hatte ein gelbes T-Shirt mit einem Adidas Schriftzug, selbst abgeschnittene und ausgefranste Jeans und
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