Mission Munroe 03 - Die Geisel
sie traten hinaus in die Nacht.
Zagreb, Kroatien
Neeva lag flach auf dem Rücken, die Arme an die Seiten gelegt, und starrte an die Decke. Die Metalltür stand offen, die ganze Zeit schon, seitdem sie aufgewacht war: weit offen, provozierend, wie ein Schläger, der nur darauf wartete, dass man auf das Angebot einging, um dann zurückschlagen zu können. So wie sie dalag, an die Wand gekettet, den Knöchel in einem gummibeschichteten Metallring gefangen, war die vergebliche Verlockung einer Flucht sehr viel schwerer zu ertragen als eingesperrt in der Dunkelheit. Voller Bitterkeit zog sie an der Kette, spürte den Widerstand und erschlaffte. Sie hatte keine Kraft mehr, um zu schreien und zu kämpfen.
Der Wärter, der normalerweise vor der Tür saß, war nicht mehr da, und auch die Sprachkurse hatten aufgehört. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, aber bis jetzt hatte jede Veränderung, die sie hier erlebt hatte, immer nur eine Verschlimmerung bedeutet.
Seit der Wasserattacke war sie gebadet oder zumindest abgeduscht worden; sie war sauber, und der Jogginganzug roch frisch gewaschen. Außerdem war ihr Haar ziemlich komisch frisiert. Wie das von Shirley Temple.
Ein Schatten füllte den Türrahmen aus. Neeva schreckte auf und wich zurück an die Wand. Sie hatte keine Schritte gehört, trotz der Stille. Sie griff nach der Kette, die lang genug war, um als Waffe dienen zu können, wenn der Schatten dicht genug herankam.
Die Person duckte sich und trat ein. Dann stellte sie sich so hin, dass das Licht nicht mehr direkt hinter ihr war und Neeva ihr Gesicht sehen konnte – eindeutig diese geheimnisvolle Gestalt von gestern, auch wenn die Haare anders waren und die Person jetzt nicht mehr wie ein Es, sondern eher wie ein Er aussah.
»Darf ich reinkommen?«, fragte die Person, und Neeva starrte sie an, blinzelte – nicht weil die Frage so höflich geklungen hatte, sondern weil sie gar nicht mehr wusste, wann sie zum letzten Mal richtige englische Worte gehört hatte, dazu noch echtes, US -amerikanisches Englisch, ohne Akzent und nicht gekünstelt, als hätte eines dieser Tiere es in der Schule gelernt.
»Du bist ja schon drin«, sagte Neeva, und er lächelte fast ein wenig traurig.
»Michael«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Neeva rührte sich nicht, und nach einer Weile nahm er die Hand wieder weg.
»Du sprichst Englisch«, sagte Neeva schließlich.
»Genau wie du«, sagte dieser Michael. »Und zwar ziemlich ausdrucksstark, wie ich gehört habe.«
Neeva schnaubte, und Michael kam näher. Etwa in der Mitte der Zelle setzte er sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und legte den Kopf in den Nacken. Neeva wartete, dass er etwas sagte, aber er blieb stumm. Sah sie nicht einmal an, und das hatte sie hier in diesem Loch noch nie erlebt.
»Was willst du von mir?«, fragte sie schließlich.
Er sah sie an. »Ich will mit dir reden, wenn du nichts dagegen hast.«
Neeva stieß ein bellendes Gelächter aus. Sie war an der Wand festgekettet, also konnte sie bestimmt nicht weglaufen. Und bis jetzt hatten sich alle hier einen Dreck darum geschert, ob sie etwas dagegenhatte oder nicht. »Na klar, schieß los«, sagte sie. »Aber musst du dir nicht erst mal einen runterholen? Das scheint hier die vorgeschriebene Reihenfolge zu sein … es sei denn, du willst das mit dem Reden einfach überspringen.«
Er erwiderte leise: »Du hast Glück gehabt.«
Seine Worte waren wie eine schallende Ohrfeige. »Ja, sicher«, erwiderte Neeva. »Riesiges Glück. Genau das denken diese perversen Schweine jedes Mal, wenn sie mich mit ihrer Gegenwart beglücken.«
»Sie wollen dich erniedrigen«, sagte er. »Und weil sie dich nicht anfassen dürfen, ist das die beste Methode. Wenn du jemand anders wärst, hätten sie dich verprügelt und vergewaltigt. Um dich zu demütigen. Deinen Willen zu brechen.«
Die Offenheit dieser Antwort machte Neeva sprachlos. Sie war völlig verwirrt. Sämtliche Fragen, auf die sie keine Antwort hatte, jagten ihr wieder durch den Kopf, bis Michael fortfuhr. »Ich werde gezwungen, etwas zu tun, was ich nicht tun möchte«, sagte er. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. »Ich möchte nur, dass du weißt, dass alles, was passieren wird, absolut nicht das ist, was ich will.«
»Aber du liegst nicht in Ketten, im Gegensatz zu mir«, sagte Neeva. »Also frag mich gar nicht erst, was ich will oder nicht will.«
»Ich bin genauso ein Gefangener wie du, nur dass meine Ketten unsichtbar
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