Mission Munroe 03 - Die Geisel
Frau wehrte sich nicht, spuckte nicht und, was noch wichtiger war, redete auch nicht. Diese neue Version von Neeva ließ Munroe unruhig werden, denn gleichgültig, was mit ihr los war, gebrochen war sie bestimmt nicht. Sie trank das Wasser in großen Schlucken und biss in gleichmäßigem Rhythmus von den salzigen Keksen ab, ohne Munroe in den Finger zu beißen. Als die Flasche und die Packung leer waren, knüllte Munroe das Plastik zusammen, warf es auf den Rücksitz und ließ sich an die Kopfstütze sinken, die Hände auf den unteren Rand des Lenkrades gelegt.
Zwanzig Minuten waren inzwischen vergangen, und immer noch rührte sich nichts.
Während sie in Gedanken versunken dasaß, tippten ihre Finger ununterbrochen Morsezeichen auf das Lenkrad, irgendwelche Wörter, eine Angewohnheit aus längst vergangenen Zeiten. Sie fragte sich, ob Lumani oder wer immer am anderen Ende der im Auto versteckten Abhörmikrofone sitzen mochte, diese Signale verstehen konnte.
Es dauerte noch einmal dreißig Minuten, bis das Telefon klingelte.
»Weiterfahren«, sagte Lumani. »Hinter der Grenze bekommst du neue Koordinaten.«
»Was ist mit den restlichen Etappenzielen bis Ljubljana?«
»Planänderung. Wir umfahren die Stadt.«
»Wieso?«
Er legte auf, und Munroe unterdrückte einen Fluch. Wenn sie je eine Chance bekommen wollte, mit Bradford Kontakt aufzunehmen, dann musste sie irgendwie in die Nähe der Zivilisation kommen, musste zumindest ungefähr wissen, wohin die Fahrt ging, um zu planen, Strategien zu entwerfen, irgendeinen Ausweg aus diesem Alptraum zu suchen. Aber jetzt hatte Lumani ihr mit einem einzigen Anruf alles genommen, worauf sie gesetzt hatte.
Munroe drehte den Zündschlüssel und fuhr los, zurück nach Pravutina, dem nächstgelegenen Punkt auf der Karte, Richtung Grenze.
Diese bestand aus einer zweispurig befahrbaren Brücke – auf der einen Seite Kroatien, auf der anderen Slowenien. Zwei pittoreske Postkartenstädtchen an zwei gegenüberliegenden Flussufern und dazu auf jeder Seite ein Wachposten, der an eine Art Carport angeschlossen war.
Hübsch. Sauber. Idyllisch. Ruhig.
Als sie Kroatien verließen, wurden keine Fragen gestellt, es gab nicht einmal skeptische Blicke. Wenn der Wachposten näher gekommen wäre, wenn er Neeva gesehen hätte, hätte es vielleicht Probleme gegeben. Vielleicht. Aber sie fuhren von Kroatien nach Slowenien, und ihr Auto hatte ein slowenisches Kennzeichen, also was sollte es schon zu sehen geben?
Auf der anderen Brückenseite hielt Munroe unter dem Dach des Carports an. Der junge Mann in Uniform kam aus seinem Häuschen, warf einen Blick auf das Auto, machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinein.
Das Handy klingelte.
Munroe nahm ab.
»Weiterfahren«, sagte Lumani.
Munroe sah zu den Fenstern hinaus, sah in die Spiegel. Er war irgendwo da draußen, musste zugesehen haben, er oder jemand anders. Sonst hätte das Timing nicht so exakt funktioniert. »Und jetzt?«, fragte sie, aber er hatte schon wieder aufgelegt. Wenige Sekunden später vibrierte das Handy und zeigte eine ankommende SMS an.
Munroe fuhr los, und dann kurvten sie eine Stunde und vierzig Minuten lang durch hügeliges Gelände und ab und zu durch ein kleines, malerisches Postkarten-Dörfchen. Schweigend, so lange, bis Neeva sagte: »Ich muss mal aufs Klo.«
Diese Worte setzten bei Munroe einen intensiven Planungsprozess in Gang. Puzzleteilchen wanderten hin und her, Zug um Zug wurde berechnet, Wahrscheinlichkeiten gegen den Tod abgewogen.
Als Neeva keine Antwort bekam, fügte sie hinzu: »Ganz, ganz doll.«
Außer den Crackern hatte Neeva seit dem Abend vor der Fahrt, als die Männer des Puppenmachers sie betäubt hatten, nichts mehr gegessen und, wenn überhaupt, nur sehr wenig getrunken. Neeva wusste das. Und sie wusste auch, dass Munroe das wusste. Deshalb hatte sie vorhin einen kompletten Liter Wasser in sich hineingeschüttet. Man brauchte keine Schauspielerin zu sein, ja, man musste nicht einmal einen Fernseher besitzen, um zu wissen, dass die Toiletten-Masche die älteste Fluchtstrategie der Welt war. Also hielt Neeva sie entweder für komplett bescheuert, oder sie war der Überzeugung, dass sie mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten sämtliche Logik aus den Angeln heben konnte.
Munroe sagte: »Das hättest du machen sollen, bevor wir losgefahren sind.«
Neevas Luftröhre war immer noch ein bisschen mitgenommen, und ihre Stimme klang dementsprechend heiser. Trotzdem wurde sie jetzt lauter.
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