Mission Munroe. Die Sekte
getroffen.
Auf der Fahrt zum Flugplatz war Hannah aufgewacht. Es hatte zwar nur eine Minute gedauert, bis sie erneut bewusstlos gewesen war, aber eine sehr unangenehme Minute. Das Mädchen war starr vor Schreck gewesen. Sie war in Begleitung einer vertrauten Person schlafen gegangen und wachte jetzt in einem Auto in Gegenwart eines Fremden auf. Das Betäubungsmittel war nicht nur eine Notwendigkeit gewesen, sondern auch ein Segen. Nach der Ankunft in Montevideo hatte er ihr eine Infusion angelegt, damit sie ausreichend Flüssigkeit bekam und weiterschlief.
Aber früher oder später würden sie sie wecken müssen. Und was dann?
Badewasser spritzte gegen die Rückseite des Duschvorhangs. Allein in diesem einfachen Geräusch lag Freude, und noch mehr davon in der nachfolgenden Stille, die alles umschloss, während er darauf wartete, Munroe alles erzählen zu können. Sie ignorierte ihn keineswegs. Sie wusste, dass er da war, und wahrscheinlich auch, dass sein geduldiges Warten in Wirklichkeit nur das Feigenblatt für eine Wahrheit war, die er niemals aussprechen würde: Er wollte in ihrer Nähe sein, wollte sie nicht aus den Augen lassen, sehr, sehr lange nicht mehr. Und obwohl sie das niemals zulassen würde – im Augenblick konnte sie nicht weg, und das war alles, was er jetzt gerade wollte.
Mit verschränkten Armen lehnte Bradford an der Wand gegenüber der Badewanne und war einfach nur zufrieden. Erst nachdem etliche Minuten vergangen waren, fing er an zu reden. »Ich weiß, dass es richtig war, Hannah dort herauszuholen«, sagte er. »Aber wir haben wahnsinnig viel Zeit damit verbracht, uns zu überlegen, wie wir das am besten machen sollen, und haben uns kaum mit der Frage beschäftigt, was wir mit ihr anstellen sollen, wenn wir sie erst einmal haben. Sie ist mit Sicherheit traumatisiert, das ist dir doch klar, oder? Sie schläft in ihrem Bett ein, neben einer Frau, die sie kennt, und dann wacht sie auf und ist von lauter Fremden umgeben, die nach allem, was sie ihr Leben lang zu hören bekommen hat, des Teufels sind. Selbst wenn wir bis zur allerletzten Minute warten und sie erst aufwecken, wenn ihre Mutter schon da ist, wird es furchtbar für sie sein.«
»Wie lange war sie zwischendurch wach?«, fragte Munroe.
»Nicht lange, eine Minute vielleicht. Aber du hättest ihren Gesichtsausdruck sehen sollen. Absolut herzzerreißend.«
»Ich habe mir fast gedacht, dass es so laufen würde«, sagte Munroe. »Ist Charity schon hier?«
»Sie kommt morgen Nachmittag an. Aber Logan drängt mich permanent, dass ich Hannah endlich zu ihm bringen soll. Irgendwann habe ich dann das Telefon ausgeschaltet.«
»Ich kann mir wirklich nur vorstellen, wie schwierig das alles für ihn sein muss«, sagte Munroe. Logan hatte acht Jahre lang darauf gewartet, seine Tochter wiederzusehen, und jetzt durfte er nicht einmal zu ihr kommen und ihr die Hand halten, während ihre Mutter zu ihr unterwegs war. Aber es ging nicht anders. Kindesentführung war ein
schwerwiegendes Verbrechen. Dass es mit Billigung der Sorgeberechtigten geschehen war, verlegte das Ganze in eine Grauzone, aber um nicht noch stärker mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, mussten sie warten, bis Charity da war.
»Es lässt sich nicht ändern«, sagte Munroe. »Aber vielleicht ist es ja das Beste so. Ich muss nämlich unbedingt vor den anderen mit Hannah reden. Ich weiß nicht, ob sie auf mich anders reagiert als auf dich, aber ich bin ihr zumindest nicht völlig fremd. Und ich habe ihr etwas zu sagen.«
Munroe ließ das Wasser ab, stellte sich in die Wanne und ließ die Dusche laufen. Auf der anderen Seite des Vorhangs war ihr Körper als verschwommene Silhouette zu sehen, und Bradford sah mit hemmungsloser Bewunderung zu, wie sie den Hals reckte und das Wasser auf ihren Nacken prasseln ließ. Dann drehte sie das Wasser ab und sagte: »Morgen früh lassen wir Hannah aufwachen. Dann habe ich sie zumindest ein paar Stunden alleine, bevor ihre Mom hier ist.«
Munroe streckte die Hand hinter dem Duschvorhang hervor und wackelte fordernd mit den Fingern. Grinsend reichte Bradford ihr ein kleines Handtuch. Sie lachte und warf es ihm zurück. »Gib schon her«, sagte sie, und er gab ihr ein Badelaken.
»Ich habe heute Morgen noch ein paar Informationen bekommen, aus New York«, sagte er dann. »Über die laufenden Ermittlungen dort.«
Munroe trat aus der Dusche. Das heiße Wasser hatte ihre Haut rosa gefärbt, und sie hatte sich in das Handtuch gehüllt.
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