Mission Munroe. Die Sekte
Logan sagte: »Warte kurz.« Dann holte er einen weiteren Aktenordner aus seinem Zimmer.
Den Blick auf die Unterlagen gerichtet, die Arme fest darum geschlossen, sagte er: »Ich habe dir dieses Material vorenthalten, weil normalerweise jeder, der das liest, alles andere sofort vergisst.« Er hielt einen Moment lang inne. »Du hattest recht – ich hatte tatsächlich vergessen, wer du bist. Vielleicht nicht gerade vergessen, aber ich habe mich von meiner Sehnsucht nach Hannah beherrschen lassen … und von der Angst und der Abscheu und der Frustration dieser bald zehn Jahre.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Ordner. »Ich habe das da zurückgehalten, weil es bis jetzt nichts weiter eingebracht hat als ein riesiges Medienspektakel, mit dem sie unseren Schmerz ausschlachten. Aber wie es uns wirklich geht, das ist allen egal. Die ERWÄHLTEN haben uns missbraucht, die Medien haben uns missbraucht, die Polizei hat uns im Stich gelassen, und die Justiz ist eine einzige Farce. Ich hatte Angst, dass du vielleicht genauso reagieren würdest.« Er hob den Blick und sah sie an, reichte ihr den Aktenordner, während ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Munroe nahm ihn fest in den Arm. »Ich bringe sie zurück, Logan. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, aber ich bringe sie zurück. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Die Informationen über Hannahs Aufenthaltsort stammten von Maggie, Charitys Schwester, die nach wie vor eine ERWÄHLTE war. Allerdings hatte sie nur die Stadt preisgegeben
und keine Adresse oder andere Details, die sie direkt zu Hannahs Oase hätten führen können.
Eine Nadel im Heuhaufen, und es gab exakt vier Möglichkeiten, sie zu finden: durch pures Glück, indem man den ganzen Heuhaufen auseinandernahm, einen Magneten zu Hilfe nahm oder den Haufen einfach abfackelte. In diesem Fall kam Glück von vornherein nicht in Frage, schließlich war die Zeit knapp. Und Zerstörung war keine reale Option.
Also würde Munroe Gideon und Heidi als Magneten benutzen.
Sie hatten beide zu unterschiedlichen Zeiten in Oasen in und um Buenos Aires gelebt. Aber selbst wenn sie sich noch hätten erinnern können, wo genau das gewesen war, oder die Adresse gekannt hätten, es hätte nichts genützt.
Der PROPHET war der Überzeugung, dass irdischer Besitz die ERWÄHLTEN zu stark an die LEERE gebunden hätte. Deshalb waren die Oasen stets nur von kurzer Dauer, zogen ständig um, wurden angemietet, wobei keiner der Vermieter ahnte, dass das freundliche Paar, das den Mietvertrag unterzeichnete, seinen Besitz schon am nächsten Tag in eine Kommune umwandeln würde. Wenn ein Quartier sich abgenutzt hatte, wenn die Nachbarn anfingen sich zu beschweren oder die Zahl der Bewohner zu viel Aufmerksamkeit erregte, wurde die Oase schlichtweg geschlossen und die ERWÄHLTEN zerstreuten sich in alle Richtungen.
Die Oasen waren unterschiedlich groß – in manchen lebten nur rund dreißig Personen, in anderen auch über zweihundert –, aber sie alle mussten ihre Mitglieder einkleiden und mit Nahrung versorgen. Die Oasen brauchten Bargeld.
Der PROPHET war außerdem der Überzeugung, dass
jeder, der in der LEERE einer Arbeit nachging, um Geld zu verdienen, dem Satan diente, weswegen die ERWÄHLTEN jede Form von Erwerbsarbeit verweigerten, um nicht zu Sklaven der Welt zu werden. Das Einkommen, das die Oasen benötigten, beschafften sie sich nicht durch die Arbeit in irgendwelchen Industrie- oder Dienstleistungsbetrieben, sondern durch Betteln, durch den Verkauf von überteuertem Modeschmuck an gutgläubige Mitmenschen, denen sie vorgaukelten, sie würden humanitäre Projekte unterstützen, oder durch Spenden.
Da Betteln jedoch zeitaufwändig und nicht besonders lukrativ war, ließ sich damit bei Weitem nicht genügend Geld beschaffen, um so viele hungrige Münder zu stopfen und ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Um dieses Missverhältnis auszugleichen, griffen die ERWÄHLTEN auf gespendete Waren zurück – Kleidung, Schuhe und Nahrungsmittel, meist leicht verderblich, fleckig und nicht mehr frisch, sowie Konservendosen, die das Haltbarkeitsdatum fast erreicht oder schon überschritten hatten. Es war ein schmaler Grat zwischen Abfall und Nahrungsmittel, und die ERWÄHLTEN wussten sehr geschickt darauf zu balancieren.
Hatte eine Oase einmal einen Spender gefunden, waren die Mitglieder sehr darum bemüht, das gute Verhältnis zu erhalten, um eine langfristige Versorgung zu
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