Mission Munroe. Die Sekte
gewährleisten. Normalerweise wussten die Spender kaum etwas über die ERWÄHLTEN , oft genug nicht einmal ihre Namen. Sie kannten nur die lächelnden Gesichter, die ihnen Woche für Woche begegneten, kannten die Kinder, die ihnen gelegentlich etwas vorsangen, und waren fest davon überzeugt, dass sie durch ihre Spende die Welt, wenn auch nur im Kleinen, ein wenig besser machten.
Ein Besuch bei einem Spender war für die Kinder immer etwas Besonderes. Sie erhielten dabei einen Einblick in das Leben außerhalb der Mauern der Oase, und diese außergewöhnlichen Gelegenheiten prägten sich tief ins Gedächtnis ein.
Gideon nahm an, dass zumindest einige der Spender, die bereits während seiner Zeit in Buenos Aires Kontakt zu den ERWÄHLTEN hatten, immer noch aktiv waren, und Munroe vermutete, dass sie über Spender die Oasen lokalisieren konnten – das war ihre Form des Magnetismus.
Sie mieteten sich kein Auto, sondern ein Taxi. Jetzt hatten sie nicht nur einen Chauffeur, sondern sogar einen, der die Straßen der Stadt und ihre auffälligeren Bauwerke und Wahrzeichen kannte. Er konnte auch ohne konkrete Adressangaben etwas mit den Schilderungen der Kinder der ERWÄHLTEN anfangen.
So fuhren sie also kreuz und quer durch die Stadt, während die Dämmerung kam und vom frühen Abend abgelöst wurde, fuhren von einem Bezirk in den anderen, lokalisierten vertraute Orientierungspunkte und schätzten Entfernungen ab, verglichen Notizen und entdeckten zunächst einen Supermarkt, dann eine Bäckerei und schließlich einen mittelgroßen Lebensmittelladen. Der Taxifahrer hielt an und ließ den Motor laufen, während Gideon das wenige, das er über den Laden wusste, herunterratterte. Anschließend legte er die Hand an den Türgriff, als wollte er aussteigen.
Munroe hielt ihn auf. »Es wäre mir lieber, wenn wir nicht in direkten Kontakt treten würden«, sagte sie.
»Ich kann mich noch an den Besitzer erinnern«, gab Gideon zurück. »Ich weiß nicht, ob er sich an mich erinnern würde, aber er könnte uns zumindest sagen, ob sie immer
noch bei ihm vorbeikommen. Und wenn er gerade nicht da ist, könnte ich die Angestellten fragen.«
»Mag sein«, erwiderte Munroe, »lass es trotzdem bleiben.«
Er blickte sie mit unverhohlener Skepsis an, und sie sagte: »Ihr habt mich engagiert, also müsst ihr mich auch machen lassen.«
Gideons Antwort bestand aus einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. Er nahm die Hand vom Türgriff, und Munroe war dankbar dafür. Sie wäre einer weiteren Konfrontation nicht ausgewichen, wenn sie notwendig gewesen wäre, um die Hierarchie festzuklopfen, aber zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein Hahnenkampf nur Zeit- und Energieverschwendung gewesen.
Sie hatte bekommen, was sie wollte.
Kapitel 10
Die Hafenanlagen waren menschenleer. Munroe schlich durch die Nacht, umging mehrere Sicherheitsposten und kroch in die Schatten vor dem Unterschlupf, der zurzeit ihr Zuhause war.
Schwere Kräne und etliche Förderbänder reckten vom Anleger aus ihre langen Arme wie Tentakeln nach den drei Schiffen, die hier festgemacht hatten. Starke Scheinwerfer tauchten den Uferbereich in helles Licht und ließen die Zwischenräume zwischen den zwei- und dreigeschossigen Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite umso dunkler erscheinen.
Die Messerattacke kam ohne Vorwarnung aus dem Schatten, als hätte der Mann lange und geduldig gewartet, als hätte er gewusst, dass sie irgendwann hier vorbeikommen würde.
Er war kräftig. Von hinten riss er ihr den Kopf in den Nacken und zerrte sie zu Boden. Ein Lichtschimmer fiel auf sein Gesicht, und sie erkannte ihn. Sie hatte ihn schon einmal hier am Hafen gesehen. Seine Haut war rau und narbig, und er sah alt aus, aber sie wusste, dass er nicht alt war. Die tägliche körperliche Arbeit hatte seinen Körper hart und sehnig gemacht.
Er verstärkte den Druck um ihren Hals, hielt ihr das Messer an die Kehle. In Sekundenbruchteilen berechnete sie ihre Chancen. Die Welt um sie herum versank im Grau.
Adrenalin wurde in ihre Blutbahnen gepumpt, und das Verlangen nahm Stück für Stück ihre Seele in Besitz.
Sie ließ ein Messer aus einer verborgenen Tasche in ihrem Ärmel in ihre Hand fallen, lächelte, entspannte sich. Unwillkürlich lockerte der Mann daraufhin seinen Griff, und in dieser einen Sekunde des Fehlers schlitzte sie ihm das Handgelenk auf. Er stieß einen obszönen Fluch aus, ließ sie los und zog sich in die Dunkelheit zurück.
Munroe schloss die Augen. Sie würde sich von
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