Mission Munroe. Die Sekte
ich unter größten Mühen versuchen muss, all die menschlichen Fähigkeiten, die mir genommen worden sind, wieder zu erwerben und anzuwenden, nein. Ich muss es außerdem auch noch heimlich machen. Als würde ich einen Makel aus der Vergangenheit mit mir herumschleppen, als wäre ich selbst irgendwie dafür verantwortlich, was mir angetan worden ist, weil sich niemand, nicht die Polizei oder die Staatsanwaltschaft, nicht die akademische Welt
und ganz bestimmt nicht der normale Mann auf der Straße, auch nur ansatzweise vorstellen kann, was da tatsächlich abgelaufen ist. Was meinst du wohl, wie die typische Reaktion aussieht, nachdem ich jemandem ein kleines bisschen aus meinem Leben erzählt habe?«
Gideon hielt inne, als erwartete er eine Antwort, und Munroe zögerte. Ja, sie wusste es. Sie wusste es, weil sie jedes Mal, wenn sie ihre Schutzschilde herunterließ, die gleiche Reaktion erntete – verdammt noch mal, es war praktisch dieselbe Reaktion, die sie von Miles an jenem Abend bekommen hatte, als sie ihm die ungeschminkte Wahrheit über ihre Vergangenheit mitgeteilt hatte.
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Standardantwort«, fuhr er fort. »Ohne Witz. Das Erste, was ich zu hören kriege, ist: ›Wow, nicht zu glauben, dass du so normal bist.‹ Was zur Hölle soll das denn heißen? Muss ich vielleicht irgendwie behindert sein, damit meine Vergangenheit glaubwürdig rüberkommt? Und was verdammt noch mal ist eigentlich ›normal‹? Ist das Durchschnittsamerika etwa das Maß aller Dinge?« Danach verstummte Gideon. Er verschränkte die Arme, und sein Blick verriet, dass er es bedauerte, überhaupt so viel gesagt zu haben.
Munroe erwiderte sein Schweigen, in der Hoffnung, dass er von alleine weitersprach, ohne dass sie nachbohren musste. Doch als er sich mit einem Hauch Endgültigkeit an die Stuhllehne sinken ließ, wusste sie, dass er ohne Provokation nichts mehr preisgeben würde. Daher sagte sie: »Kannst du die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen? Dein eigenes Leben leben?«
Seine Züge wurden düster, während seine Zähne einen Zahnstocher bearbeiteten.
Sie hatte dieselben Worte gebraucht, die der PROPHET und seine Stellvertreter jahrelang benutzt hatten. Selbst wenn solche Dinge vorgekommen sein sollten, gibt es keinen Grund, verbittert zu sein. Du solltest vergeben und vergessen und das Vergangene vergangen sein lassen. Nicht besonders nett, wenn man bedachte, dass die Leute, die da Vergebung verlangten, diejenigen waren, die all das Unrecht begangen hatten, ohne auch nur ansatzweise zu versuchen, den Schaden, den sie damit angerichtet hatten, irgendwie wiedergutzumachen. Andererseits war diese Haltung, dieses »Das Opfer hat doch selber Schuld«, unter Kinderschändern durchaus üblich und weit verbreitet.
Gideon schien ihren Tiefschlag zu verdauen und ging nicht weiter darauf ein. Er sagte: »Eine Weile habe ich gedacht, dass die Verantwortlichen vielleicht ein Einsehen haben, wenn ich mit ihnen reden könnte, wenn ich ihnen klarmachen könnte, wie schwer sie uns das Leben gemacht haben. Ich weiß auch nicht, ich dachte, wenn sie sich vielleicht entschuldigen würden, dass ich diese ganze Scheiße dann leichter vergessen könnte, verstehst du? Dass ich dann loslassen könnte? Aber niemand ist bereit, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Meine eigenen Eltern haben im besten Fall ein paar jämmerliche Ausreden auf Lager. Sie wollen mir weismachen, dass mein Leben doch gar nicht so schlecht war, wie ich glaube. Zum Kotzen. Die waren ja nicht einmal in der Nähe. Die haben keine Ahnung, was ich alles durchgemacht habe. Ich …« Er hielt inne und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
»Oh Gott«, sagte er dann, unterbrach sich erneut, richtete den Blick zum Himmel und dann wieder zu ihr zurück. »Selbst die Leute, die mich nie persönlich angerührt haben,
haben das System gestützt. Sie haben danebengestanden, haben alles zugelassen und ihre Rolle gespielt. Jeder Einzelne war beteiligt, entweder direkt oder dadurch, dass er weggesehen hat. Die gesamte Institution, die gesamte Lehre, alles war darauf ausgelegt, uns zu missbrauchen. Sie haben uns zum Betteln auf die Straße geschickt, haben uns eine vernünftige Ausbildung verweigert, haben uns geschlagen, uns hungern lassen, uns exorziert und uns von unseren Eltern getrennt. Sie haben unsere Familien zerstört, unsere Körper an Perverse vermietet und uns unsere Zukunft gestohlen. Und dann wenden sie sich einfach von uns ab und
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