Mister Medusa
Sigrid. Ich werde das schon durchziehen, und den Kopf wird sie mir schon nicht abreißen.«
»Meine ich auch.«
Eva drehte sich um. Plötzlich musste sie weinen, und dann umarmte sie ihre Freundin wie ein Kind seine Mutter. Sie kannte sich ja selbst nicht mehr, aber in den letzten Tagen war eben alles anders geworden, und sie konnte nicht gegen die eigenen Gefühle ankämpfen.
»Ich würde jetzt gehen und es nicht noch länger hinauszögern.«
»Ja, Sigrid, aber sie sind in der Sauna.«
»Stört dich das?«
»Mich weniger. Vielleicht sie und...«
»Geh schon.«
Eva Lund ging auf die Zimmertür zu, und sie hielt ihren Kopf dabei gesenkt. Irgendwie kam sie sich auch wie eine Verräterin vor, die Freundinnen im Stich ließ. Aber sie schaffte es auch nicht, gegen ihre Gefühle anzukämpfen, und sie hoffte nur, dass Carmen für ihr Verhalten etwas Verständnis aufbrachte.
Der Flur lag vor ihr. Es brannten die in das Holz der Decke integrierten Lampen, die einen fächerförmigen Schein nach unten strahlten und auf dem Boden helle Flecken hinterließen. Mit langsamen Schritten bewegte sich Eva auf die erste Stufe der Treppe zu, und sie überlegte dabei, was sie Carmen sagen sollte. Es war wirklich wichtig, die richtigen Worte zu finden.
Es war sonst kein Problem für sie, die Treppe hinab nach unten zu gehen, doch an diesem Tag sah alles anders aus. Da blieb sie zunächst stehen und hatte die Finger an der rechten Hand um einen vorstehenden Knauf gedrückt.
Sie wollte sich noch mal die Worte durch den Kopf gehen lassen, die ihr am geeignetsten erschienen, aber es kam alles ganz anders, denn von unten her hörte sie etwas. Da wurde die Stille plötzlich unterbrochen, aber es waren keine Stimmen, sondern...
Eva wollte es zunächst nicht wahrhaben. Sie lauschte auch weiterhin und wünschte, sich getäuscht zu haben.
Es war kein Irrtum.
Die Laute, die sie hörte, sehr deutlich sogar, waren einfach Schreie.
Frauenschreie!
So schrie nur jemand, der sich in einer schrecklichen Lage befand und keinen Ausweg mehr wusste.
Eva stand am Beginn der Treppe. Sie hielt die rechte Hand zur Faust geballt und hatte den Knöchel gegen ihr Kinn gedrückt. In den weit geöffneten Augen flackerte die Panik, und dann schrie auch sie leise auf, als zwei Hände sich um ihre Hüften legten.
»Ruhig, Eva, ruhig...«
»Sigrid, Himmel...«
»Was ist denn los?«
»Schreie, Sigrid. Du musst genau hinhören, dann verstehst du sie auch. Unten, wo sie anderen sind. Gott, ich glaube... ich glaube... sie... sie sterben.«
»Was?« Sigrid hatte den Mund weit aufgerissen und das Wort hervorgekeucht.
»Ja. Aber nicht so laut.«
Sigrid Gren sagte nichts mehr. Sie merkte nur, dass plötzlich ein bitteres Gefühl vom Magen her in die Höhe stieg und sich auch in ihrem Mund ausbreitete. Sie hätte Eva ausgelacht, doch als sie die Freundin genauer anschaute, da stellte sie fest, dass jemand einfach nicht so schauspielern konnte.
So lauschte auch sie, und neben ihr presste Eva die Lippen zusammen.
Schreie!
Dünn, aber durchaus zu hören. Sigrid fand zudem heraus, dass sie bestimmt nicht nur aus Spaß abgegeben worden waren, denn das waren keine Lustschreie, wie es sie in diesem Haus des Öfteren gab.
Wer sie abgab, der musste Angst haben, eine schreckliche Angst sogar. Angst vor dem Tod.
Sie hatte Eva nicht als eine Spinnerin abgetan, ihr aber auch nicht so direkt geglaubt. Nun wurde sie eines Besseren belehrt, denn diese Schreie waren echt. Sie stammten nicht von einer Kassette, die jemand eingelegt hatte.
Sogar Stimmen konnte sie herausfinden. Einige Schreie waren besonders hoch. Sie gellten spitz und schrill. So konnte nur eine Person schreien: Li, die kleine Chinesin mit dem knabenhaften Körper.
Dann verstummte der Schrei.
So plötzlich, dass Sigrid erstarrte. Auch die anderen waren kaum noch zu hören. Sie hatten sich nur verändert und wehten mehr als wimmernde Laute zu ihnen hoch.
»Sag was, Sigrid – bitte!«
Erst jetzt wachte die blonde Frau auf. »Mein Gott, du hast Recht. Da unten ist der Horror.«
»Ja, wohl wahr. Und was tun wir?«
»Weg!«, flüsterte Eva scharf. »Wir müssen weg. Es gibt keine andere Chance für uns.«
»Aber nicht unten...«
»Nein, nein, durch das Fenster. Komm!«
Sigrid war noch immer nicht ganz in der Welt und stand unter dem Eindruck des Gehörten. Erst als Eva an ihrem rechten Arm zerrte, da kam wieder Bewegung in sie.
Beide Frauen huschten so leise wie möglich auf das Zimmer zu, aus dem
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