Mister Medusa
noch ihre Freundin hinter sich herziehen, und die wollte sie auf keinen Fall im Stich lassen. Ihr kam jetzt wieder das Erlebte in den Sinn. Sie hörte die Schreie aus den unteren Räumen. Keine von ihnen hatte gesehen, was dort vorgefallen war, aber sicherlich war der Tod auf eine besonders grausame Art und Weise zu ihren Kolleginnen gekommen.
Der Boden wurde weicher, je mehr sie sich dem Wasser näherten. Sie befanden sich in einer Höhe mit dem Haus, als Sigrid den Kopf kurz nach links drehte.
Es sah aus wie eine etwas größere Hütte, die rot angestrichen worden war. Es gab Fenster, aber kein Licht im Innern, und hinter keiner Scheibe malte sich eine Gestalt ab.
Eva Lund hielt sich tapfer, auch wenn sie unter Schmerzen litt. »Ich hätte nie gedacht, dass wir es packen«, flüsterte sie, »aber jetzt glaube ich es auch.«
»Man darf die Hoffnung eben nicht aufgeben, Schätzchen.«
»Super. Im Haus hast du anders darüber gedacht.«
»Klar. Das war auch eine andere Welt. Aber die haben wir hinter uns. Und wenn wir wieder in der Stadt sind, werden wir die Bullen informieren und ihnen erklären, was in unserem Haus vorgefallen ist. Ich hoffe ja noch immer, dass jemand lebt.«
»Hast du denn dein Handy nicht mit dabei?«
»Nein, es steckt in der Handtasche. Die liegt oben im Haus im Zimmer. Das ist ja die Tragik.«
»Verdammt. Immer wenn man es...«
»Pst! Sei mal still.«
Eva schwieg von einem Augenblick auf den anderen. Beide Frauen standen unbeweglich auf der Stelle. Vor ihren kräuselte der leichte Wind die Oberfläche des Wassers und gab ihr ein Wellenmuster. Der Steg lag zum Greifen nahe vor ihnen. Nur drei Schritte, dann hatten sie ihn erreicht.
Aber etwas anderes hatte sie abgelenkt. Zumindest Sigrid waren die Tritte hinter ihnen aufgefallen, die sie jetzt nicht mehr hörte, was sie aber auch nicht beruhigte.
Als sie sich auf der Stelle drehte, schlug ihr Herz schneller. Dann hatte sie das biblische Gefühl, zur Salzsäule zu werden, denn fast zum Greifen vor ihr stand ein bärtiger Mann.
Das hätte sie nicht mal erschreckt und auch Eva nicht, die sich ebenfalls gedreht hatte.
Schlimm war für die Frauen etwas anderes.
Der Mann hielt mit beiden Händen den Stiel einer Axt umklammert!
***
»Nein!«, stöhnte Eva Lund, »nein, nicht schon wieder.« Sie konnte nicht mehr und begann zu weinen, während sie dem Axtträger die Hände entgegenstreckte.
Der blieb davon unbeeindruckt. Er reagierte zunächst nicht. Ebenso wie Sigrid Gren, die auch nichts tat, weil der Anblick sie einfach zu hart getroffen und steif gemacht hatte. Sie wusste wohl, dass die Kraft beider Frauen nicht mehr ausreichte, um jetzt noch was gegen den Kerl unternehmen zu können. Sie hatten es versucht, aber sie waren vom Regen in die Traufe geraten.
Der Mann mit der Axt stand vor ihnen wie eine Kunstfigur, die ein Künstler aus einer bösen Laune heraus erschaffen hatte. Seine Haltung war eindeutig. Er würde die beiden Frauen nicht entkommen lassen. Es war sowieso schwer für sie, wenn nicht unmöglich, denn Eva konnte nicht normal laufen.
Das Schweigen zwischen ihnen hielt an. Der Bärtige bewegte nur seine Augen, was Sigrid auffiel, die den Blick nicht gesenkt hatte, im Gegensatz zu ihrer Freundin. Und Sigrid schaute in die Augen hinein. Sie hatte gelernt, Menschen an Hand ihres Blickes einzuschätzen, das war in ihrem Job von Vorteil gewesen, und sie erkannte, dass dieser Mensch einen klaren und offenen Blick besaß.
Er stellte auch die erste Frage. »Wer seid ihr?«
Sigrid schwieg. Auch Eva sagte nichts.
»Wo kommt ihr her?«
Wieder fiel von Sigrid eine Last ab. Wer so fragte, der konnte nicht so schlecht sein.
Endlich war auch sie fähig, eine Antwort zu geben. »Bitte«, flüsterte sie, »wir... wir brauchen Hilfe. Man hat uns...«
Der Mann ließ sie nicht zu Ende sprechen. Er lachte sie scharf an. Dann sagte er: »Hilfe, wie? Hilfe braucht ihr angeblich. Das könnt ihr erzählen, wem ihr wollt. Nur nicht mir. Ich habe euch beobachtet. Ihr seid hier nicht normal gegangen. Ihr seid fast geschlichen. Man sollte euch nicht sehen. Ich kann mir schon denken, was ihr bei mir gewollt habt. Ihr wolltet stehlen. Ihr seid scharf auf mein Boot gewesen. Das habe ich erkennen können.«
Sigrid Gren sah ein, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie alles abstritt. Deshalb nickte sie auch. »Ja, wir wollten das Boot haben. Wir wollten es, verdammt. Aber wir wollten es nur, um zu verschwinden. Verstehst du? Wir mussten entkommen.
Weitere Kostenlose Bücher