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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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Glück, das ihm zuteilwurde.
    In dieser Nacht ging es hingegen so ruhig zu, dass er sich geradezu nach einer Katastrophe sehnte. Er langweilte sich. Er übernahm Kontrollgänge, die er problemlos den Krankenschwestern hätte übertragen können. Er legte einen Umweg durch die Pathologie ein, die er so unauffällig wie möglich betrat und in deren Milchglastüren er Susans graue Gestalt ausmachen konnte wie einen mit schräg gehaltenem Bleistift schraffierten Schatten. Er konnte ihre Absätze über den Boden klappern hören, aber als sie sich der Tür näherte, eilte er durch den Flur davon, zurück in sein Arbeitszimmer, um ein Nickerchen zu machen.
    Später, um kurz vor fünf, wurde ein Mann Mitte dreißig von der Polizei eingeliefert. Er war geschmackvoll gekleidet und trug einen Anzug. Trotzdem wirkte er ungepflegt: das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht, der Krawattenknoten gelöst, der Mantel dreckverschmiert, die Hosenaufschläge mit Schlamm bespritzt, die fleckigen Schuhe voller Grashalme. Er hatte sich mindestens einen Tag lang nicht rasiert, und seine rot geränderten Augen waren glasig, obwohl Sheppard keinen Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Wir haben ihn an der Lake Road aufgegriffen«, sagte der Polizist. »Er bringt keinen zusammenhängenden Satz zustande.« Als Sheppard den Mann nach seinem Namen fragte, hob dieser verwirrt den Kopf, so als habe er ein fernes Echo gehört. »Legen Sie es da rein«, sagte er, »bitte.« Er hob beide Hände, dann hustete er heftig und krümmte sich. Ein grüner Schleimbrocken landete auf dem Boden zwischen seinen Füßen. Sheppard ließ sich von der Krankenschwester eine Schale bringen und schaufelte das Zeug mit einem Zungenspatel hinein, bevor er dem Patienten half, sich hinzulegen. Glücklich schloss der Mann die Augen. Sheppard horchte die Lunge ab, die wie eine Wasserpfeife klang. Die Milz war stark vergrößert, der Unterleib heiß. Als Sheppard seine Finger darauflegte, zuckte der Mann zusammen und wachte auf. »Wie oft muss ich das noch sagen?«, fragte er und sah sich um, als wäre er auf dem Mars. Sein Blutdruck war niedrig und fiel weiter ab. Sheppard überlegte kurz, bestellte eine Infusion und nahm dem Mann Blut ab, eine Maßnahme, die der Patient amüsiert beobachtete, bevor er wieder eindöste.
    »Miss Hayes soll ein kleines Blutbild machen und eine Urinanalyse, bitte«, sagte er zur Krankenschwester. »Sagen Sie ihr, sie soll mir die Ergebnisse bringen, sobald sie vorliegen.« Dann ging er, um mit den Polizisten zu sprechen. Der Mann hatte keine Brieftasche und keine Papiere dabei, trug aber einen Ehering. Keiner der Beamten kannte ihn.
    »Hat er Drogen genommen?«, fragte der Erste.
    »Ich glaube nicht«, antwortete Sheppard.
    »Ist er krank?«
    »Ja, sehr.«
    Sheppard kehrte zum Krankenzimmer zurück und beobachtete den Patienten, dessen Blutdruck weiter fiel. Er sah auf seine Armbanduhr; fast zwanzig Minuten waren vergangen. Als Susan eintrat, gelang es ihm mit Mühe, ruhig zu bleiben.
    »Ist er das?«, fragte sie.
    »Ja.«
    Sie betrachtete den Mann flüchtig, dann reichte sie Sheppard die Testergebnisse. Für einen kurzen Moment hielten sie sich beide am Klemmbrett fest.
    »Die Zahl der weißen Blutkörperchen ist ungewöhnlich hoch«, sagte sie.
    »Wie hoch?«
    »Zweiundzwanzigtausend.«
    »Was ist mit dem Hämatokritwert?«
    »Fünfunddreißig«, sagte sie.
    Die Zahlen standen direkt vor ihm auf dem Papier, aber er wollte fragen. »Was ist mit dem Abstrich?«
    »Ich habe Vakuolen in einigen der weißen Blutkörperchen gefunden.«
    Sheppard atmete ihren Duft ein.
    »Er ist eindeutig vergiftet«, erklärte sie.
    »Haben Sie schon das Sputum untersucht?«
    »Grampositiv.«
    »Ein einziger Stamm?«
    »Ja.«
    »Wie sehen sie aus?«
    »Stäbchenförmig.«
    »Weiter, bitte.«
    »Ich würde auf Diplokokken tippen. Aber wenn Sie möchten, können Sie selbst einen Blick auf den Objektträger werfen.«
    Er ließ das Klemmbrett los. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte, presste sich das Brett an die Brust und sah ihn an, als rechne sie mit Kritik.
    »Sehr gut«, sagte er.
    Sie lächelte.
    »Noch irgendwas?«, fragte er.
    »Mir sind Einlagerungen in den roten Blutkörperchen aufgefallen.«
    Nun lächelte auch Sheppard. So lange hatten sie sich noch nie unterhalten. Er trat einen Schritt vor, bis sie dicht nebeneinander am Fußende des Bettes standen. Da lag er nun, ein junger Mann in einem Anzug, ein Niemand, dessen Blutdruck in tödliche Tiefen absackte.

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