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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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fühlte David sich schwerelos; sein gesamtes Körpergewicht bewegte sich auf seinen Kopf zu; seine Schuhsohlen verloren kurz den Kontakt zum Fußboden, und dann landete er wieder. Beide Flugbegleiterinnen hatten sich zurückgelehnt, hielten die Augen geschlossen und die Schnallen ihres Gurts umklammert wie den Sicherheitsbügel einer Achterbahn. Die eine atmete kontrolliert und mit gespitzten Lippen aus, eins , zwei , drei . David konnte seine Frau hinter der Tür weinen hören. Nun war ihr nichts mehr peinlich, dachte er, und vielleicht sollte er sich genauso verhalten. Sie wehrte sich nicht mehr gegen die Panik.
    »Alice!« Er rüttelte am Türgriff. »Ich möchte dich zu deinem Platz zurückbringen!«
    Das Schloss schnappte, und David schob die Tür auf. Im selben Moment schaltete sich das Toilettenlicht aus. Alice saß im Dunkeln auf der Toilette und schluchzte. Ihre Arme, ihr Rock und ihre Bluse waren blutverschmiert, so als sei etwas in ihrem Schoß explodiert. In der Wiege ihrer Handflächen lag ein neugeborenes Kind, das ein wenig an die Darstellung eines verhungerten Aliens erinnerte. Die großen Augen waren kaum geschlossen, das Gewicht des baumelnden Kopfes zog den Mund auf. Ein von gelbem Brei und Blutschlieren bedeckter Junge, zwischen dessen dürren Beinchen eine Nabelschnur zu sehen war – ein Junge, der David schockierend ähnlich sah.
    »Bitte«, weinte Alice und hielt ihm das Kind entgegen, »bitte tu ihn zurück!«
     
    Zwei Ärzte, die zufälligerweise an Bord waren, richteten in der Bordküche einen Behandlungsraum ein. Sie arbeiteten hinter geschlossenen Vorhängen. Man bereitete ein provisorisches Bett aus Sitzpolstern und Kissen und Decken, auf das man die beiden legte. Der tote Junge wurde in Handtücher aus der ersten Klasse gewickelt und Alice auf die Brust gelegt. Nina Chen, eine junge Onkologin, hatte David gefragt, ob er die Nabelschnur durchtrennen wolle, und er hatte es nicht über sich gebracht abzulehnen; direkt danach wurde ihm schwindlig, woraufhin Chen ihn sich auf den Boden setzen und den Kopf zwischen die Knie stecken ließ. Der ältere Arzt, ein Pathologe namens Solomon Green, hatte Alice ausgezogen und gewaschen. Überall lagen blutgetränkte Handtücher herum, die die Ärzte, ohne zu zögern, einsammelten und in eine Mülltüte steckten. Sie hatten Alice’ Schock unter Kontrolle gebracht, und gerade war Green dabei, ihre Vitalfunktionen zu überprüfen. Sie war bei Bewusstsein, streichelte mit einem Finger die Wange des reglosen Babys und sprach mit ihm, als wäre es am Leben. Sie nahm ihre Umwelt nicht wahr und sprach so leise, dass ihre Worte im Jaulen der Motoren untergingen. Inzwischen hatten sie einen ruhigeren Luftraum erreicht. Alice’ Kummer glich einer radioaktiven Strahlung. David spürte, wie ihre Trauer seine inneren Organe zusammendrückte.
    Chen zog ihn hinter den Vorhang. »Ihre Frau ist stabil«, sagte sie, »sie scheint nicht allzu viel Blut verloren zu haben.«
    »Danke.«
    »Hat sie Handgepäck dabei?«
    »Ja.«
    »Ist da Kleidung drin?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Bitte sehen Sie nach. Es wäre besser, sie vor der Landung umzuziehen.«
    »Ja, natürlich.«
    »Ich werde ihr ein Beruhigungsmittel spritzen. Ist sie gegen irgendwelche Medikamente allergisch?«
    »Nein.«
    »Und Sie?«
    »Nein«, sagte David, »aber ich … ich möchte nichts einnehmen.« Er sah die Ärztin an. »Bitte zwingen Sie mich nicht dazu, etwas einzunehmen.«
    Sie lächelte müde und berührte Davids Arm. »Ich gehe wieder rein und sehe nach, wie es ihr geht.«
    »Wissen Sie, was passiert ist?«
    Chen schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Sie haben keine Vermutung?«
    »Es wäre unverantwortlich, irgendwelche Spekulationen anzustellen.«
    Als sie sich umdrehte, hielt David sie noch einmal zurück. »Was …«, fragte er. »Was machen wir mit ihm?«
    Chen kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Sie meinen das Kind?«
    »Ja.«
    »Fürs Erste sollte er bei ihr bleiben«, sagte sie. »Die Mutter sollte ihn noch ein bisschen im Arm halten können.«
    Glücklicherweise steckte ein Kleid in Alice’ Handgepäck. David zog außerdem frische Unterwäsche heraus, und er spürte die Blicke der anderen, als er die Tasche wieder ins Gepäckfach hob. Die alte Frau, die ihn während des Unwetters angesprochen hatte, legte ihm eine Hand an den Ellenbogen und fragte, ob es seiner Frau besser gehe. Und wenn nicht?, dachte David. Was soll ich dann sagen? Sie

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