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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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ergriff seine Hand und zog ihn zu sich herunter, eine vollkommen fremde, spindeldürre Frau, sie konnte kaum mehr als vierzig Kilo wiegen, und ihr Brillengestell ragte zu beiden Seiten über ihr Gesicht hinaus. David kniete nieder, er ekelte sich vor dem Mitgefühl, das sie ihm aufzwang.
    Sie umschloss seine Finger mit beiden Händen. »Ich habe zwei Töchter«, sagte sie, »und zwei Fehlgeburten erlebt. Es ist Gottes Wille. Es bedeutet, dass euer Kind nicht für diese Welt gemacht war. Dass es im Himmel gebraucht wird.«
    Aber es war für diese Welt gemacht, dachte David. Er bedankte sich und ging zu Alice zurück, wobei ihn auf dem Weg durch den Mittelgang alle Passagiere mit ungehemmter Neugier anstarrten. Am liebsten hätte er sie alle angeschrien.
    Chen und Green standen vor dem Vorhang und unterhielten sich. Als David sich näherte, zogen sie den Stoff sanft beiseite. Alice hatte ihre Haltung nicht verändert, sie hielt das Baby immer noch im Arm und redete ihm zu, nickte und flüsterte und wiegte den kleinen Körper behutsam. Sie schien einem Wahn erlegen zu sein, so unerreichbar, dass David das Gefühl bekam, sie durch ein umgedrehtes Fernglas zu beobachten. Er wollte sich ihr Verhalten zuerst von den Ärzten erklären lassen, aber dann reichte ihm das Entsetzen auch so, er wollte es nicht noch vergrößern, indem er weitere Informationen einholte. Und dann begann Alice zu sprechen.
    »Ich weiß, dass wir Henry in Betracht gezogen hatten, aber jetzt, da ich ihn sehe, finde ich David viel passender.«
    Während sie die kleine Gestalt betrachtete, bekam David das Gefühl, sie für immer verloren zu haben.
    Sie hob den Kopf. »Möchtest du ihn mal halten?«
    Nein, wollte er nicht.
    »Er sieht aus wie du«, sagte sie und hielt ihm das Kind lächelnd entgegen.
    Der Körper war so klein, nicht größer als eine Colaflasche, es schien gar nicht nötig, ihn mit beiden Händen zu nehmen. David ging zitternd am Fußende des Kissenlagers auf die Knie und nahm das Kind entgegen, wobei er fürchtete, es fallen zu lassen oder zu fest zuzugreifen und den kleinen Körper irgendwie zu schänden. Er setzte sich im Schneidersitz hin und hielt sich das Bündel vor den Bauch, und dort in dem dreieckigen Schoß sah er das wie mitten im Flüstern oder Küssen erstarrte Babygesicht, die rosa, von Venen durchzogene, pergamentdünne Haut. Der Körper war so klein wie eine Actionfigur. Auf dem Kopf wuchsen die ersten, schwarzen Haare. Die Glieder waren reglos, trotzdem konnte David nicht anders, als in das Bündel hineinzugreifen und eine kleine Hand zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen, an deren Fingerspitzen er, als er sie vorsichtig drehte, deutlich die kleinen Fingernägel erkennen konnte. Er wandte sich den Füßen zu – die winzigen Knochen erinnerten an die wundersame Struktur eines Flaschenschiffs, die Zehen waren zart gekrümmt – und steckte das Beinchen zurück ins Bündel. Dabei hatte er ständig das Gefühl, sich selbst von oben zu beobachten. Was war der Zweck dieses biologischen Vorgangs? Zellen über Zellen, die sich im Schöpfungsvorgang wieder und wieder teilten. Das Missverhältnis der Proportionen ließ erkennen, dass das Baby noch nicht fertig war. Sollte er sich von dieser Feststellung trösten lassen? David musterte noch einmal das Gesicht, um ganz sicherzugehen. Die Ähnlichkeit war unheimlich, dennoch konnte er sich nicht in Bezug zu dem toten Kind setzen. Er hatte eher das Gefühl, im Zoo einem besonders fremdartigen Tier gegenüberzustehen.
    Wie aus dem Nichts sagte Alice: »Wir werden ihn hier bestatten.« Sie ließ ein angedeutetes Handwedeln folgen, so als meine sie die Luft.
     
    Durch die zwei rechteckigen Fenster des Krankenwagens betrachtet, wirkte Honolulu auf David kaum anders als alle anderen amerikanischen Städte. Kein Inselparadies, sondern ein Netz aus Stadtautobahnen, Brücken und Tunneln, aus Schnellstraßen, die an verfallenden Gebäuden und menschenleeren Gehsteigen entlangführten. Davids Gesicht, sein ganzer Körper fühlte sich wie eine Hülse an. Er hatte eine Hand auf Alice’ Bein gelegt, vermied es aber, sie anzusehen. Die beiden anzusehen. Er fürchtete, bei ihrem Anblick auseinanderzufallen. Der Weg vom Flughafen führte sie an einem Ufer voller gigantischer Kräne und Kriegsschiffe vorbei – David dachte an Baltimore. Und erst dann begriff er, dass er gerade Pearl Harbor gesehen hatte.
    Als sie etwa eine Viertelstunde gefahren waren, begann die Landschaft, sich zu

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