Mister Peanut
ihn aus dem Augenwinkel.
Er wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Oberlippe. »Es tut mir leid«, sagte er.
Alice blieb stehen.
»Kannst du deinen Rucksack tragen?«
»Es tut ein bisschen weh.«
Er seufzte. Nun war es ruhig. Er hatte ein schlechtes Gewissen und wollte sie küssen. »Schön hier oben«, sagte er.
Sie nickte.
»Lass uns bis nach Hanakapi’ai gehen«, sagte er. »Dort können wir deine Verletzung behandeln lassen, und dann planen wir neu.«
Sie räusperte sich.
»Möchtest du vorgehen?«, fragte er.
Sie stand da wie ein Kind. »Du gehst«, sagte sie schließlich.
Für den Positionswechsel mussten sie einander dicht gegenüberstehen. Er lächelte, aber sie blickte nicht auf.
Während der nächsten halben Stunde kamen sie nur langsam voran. Wann immer er sich umdrehte, sah er, wie Alice sich bergabkämpfte, humpelte und an ihren Schultergurten zerrte. Er erkundigte sich regelmäßig nach ihrem Befinden, aber weil sie stets behauptete, es gehe ihr gut, hörte er irgendwann damit auf. Nach einer Stunde erreichten sie einen Felsvorsprung, der so breit war, dass ein Dutzend Leute darauf Platz gefunden hätte. Ein Findling bot eine natürliche Sitzgelegenheit, überschattet von einem kleinen Baum – der perfekte Rastplatz.
Alice blieb stehen, ließ den Rucksack von ihrem Rücken gleiten und zuckte zusammen, als der Träger ihre Schulter streifte. Dann setzte sie sich hin und hob den rechten Fuß an. »Ich habe eine Blase«, sagte sie und zog sich Schuh und Socke aus.
»Lass mich das machen«, sagte er. Die Blase hatte sich an der Außenseite ihres großen Zehs gebildet, und nun hing die Haut als cremeweißer Fetzen herunter.
David war stolz, weil er Hirschtalgcreme und Pflaster parat hatte. Alice ließ sich von ihm behandeln, was ihn erfreute, und als sie den Schuh wieder anzog, sagte er: »Vielleicht sollten wir umkehren.«
»Ich will weitergehen«, sagte sie, ohne aufzustehen.
Eine Familie kam um die Ecke, Tagesausflügler, die nicht mehr als eine Wasserflasche dabeihatten und auf dem Rückweg zum Ke’e Beach waren. Mutter und Vater schienen Ende vierzig zu sein, die beiden Söhne im Teenageralter. Sie blieben auf dem Felsvorsprung stehen, um die Aussicht zu genießen. David nickte ihnen zu.
»Würden Sie ein Foto von uns machen?«, fragte die Mutter.
Er bejahte und nahm die Kamera entgegen. Die Eltern stellten sich formell auf, jeweils einen Jungen vor sich.
»Sollen wir Sie auch fotografieren?«, fragte die Frau.
David warf Alice einen Blick zu.
Sie ließ einen Fuß im Gelenk kreisen, und dann betrachtete sie David zum ersten Mal seit Wochen mit einem Blick, der annähernd herzlich war.
»Ja«, sagte sie.
Sie stand auf und stellte sich neben ihn. Er nahm den Rucksack ab. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihren Arm um seine Taille gelegt. Ihre Berührung erschreckte ihn so sehr, dass er fast zusammenzuckte. Vorsichtig legte er einen Arm auf ihre verletzte Schulter.
Wenn man sich das Bild ansieht, dachte er viele Monate später, könnte man glatt meinen, wir wären in diesem Moment glücklich gewesen.
Sie verließen den Vorsprung und hatten den Abstieg zum Strand innerhalb einer Stunde hinter sich gebracht. Das sich anschließende Tal hatte die Form eines Pfeilkopfes, der sich in die Felsen gebohrt hatte, und der Weg hinunter war tückisch und beschwerlich. Sosehr David auch aufpasste, er rutschte immer wieder aus, und jedes Mal, wenn er sich zu weit zurücklehnte, brachen die Steine ihm unter den Füßen weg, und er landete auf dem Hosenboden und schlitterte bergab. Er stürzte dreimal, legte aber keine Pause ein, weil die Aussicht auf ein Ende der Plackerei, auf etwas zu essen und darauf, den Rucksack endlich ablegen zu können, ihn antrieb. Wir werden es niemals bis zum Camp schaffen, dachte er. Nur einmal hielten sie inne, vor einem hölzernen Wegweiser mit gelber Aufschrift. Über der Warnung prangte ein weißer Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen, darunter schwamm ein rot durchgestrichenes Strichmännchen in einem roten Kreis. I N H ANAKAPI ’ AI KOMMT ES ÖFTER ZU TÖDLICHEN B ADEUNFÄLLEN ALS AN JEDEM ANDEREN S TRAND AUF K AUAI . D AS S CHWIMMEN IST UNTER KEINEN U MSTÄNDEN ERLAUBT . Unter dem Warnschild waren dreiundzwanzig Kerben ins Holz geschnitzt.
Dabei sah Hanakapi’ai kein bisschen tödlich aus, ganz im Gegenteil, der Strand wirkte ausgesprochen freundlich. Die letzte Etappe des Abstiegs führte durch eine Art Flussbett, das mit
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