Mit dem Teufel im Bunde
Mensch ist anders als die anderen, jeder auf seine eigene Weise.»
Alles brauchte seine Zeit. Was war schon ein halbes Jahr? Wie hatte sie sich gefühlt, als sie, noch ein dummes, wohlbehütetes Mädchen, aus dem vornehmen Haus ihres Vaters davongelaufen und bei den Komödianten gelandet war? In einer erschreckend fremden und armen Welt. Jean hatte sie damals halberfroren und verhungert auf der Straße aufgelesen, er, Helena und die anderen hatten sie aufgenommen und waren zu ihrer Familie geworden. Ohne die Becker’sche Komödiantengesellschaft wäre sie verloren gewesen. Sie hatte gute Jahre erlebt, sich aufgehoben und am rechten Platz gefühlt, ihren Beruf von Anfang an geliebt und sich nicht vorstellen können, ohne ihn zu leben. Doch irgendwann hatte sie begonnen, sich ihrer Wurzeln zu erinnern, und schließlich aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Und dann war sie Magnus begegnet.
Trotzdem hatte sie Heimweh nach diesem Leben ohne Heimat, nach der Aufregung hinter der Bühne, nach dem Spiel, dem Gesang, dem Tanz, nach dem Applaus. Auch nach den weiten Landschaften und dem Reisen, obwohl es häufiger beschwerlich als schön gewesen war. Ohne Heimat? Das stimmte nicht. Da war zwar kein bestimmter Ort gewesen, sie waren ja ständig von einer Spielstätte zur nächsten durch das Land gereist, aber Heimat bedeutete nicht nur einen Ort, es bedeutete zuallererst die Menschen, die man liebte und denen man vertraute.
Mit einem tiefen Seufzer atmete sie den Rest der Enge aus ihrer Brust. Solche Menschen gab es für sie auch hier. Nicht nur Magnus, viel länger waren ihr Anne Herrmanns, ihr Mann Claes, dessen Tante Augusta und Mamsell Elsbeth vertraut, deren Köchin und tatsächliche Regentin des großen Herrmanns’schen Haushaltes. Auch Weddemeister Wagner und seine verträumte Frau Karla, nicht zuletzt Jakobsen, der Wirt des
Bremer Schlüssel
in der Fuhlentwieteund seine resolute Schwester Ruth, die die besten Suppen in der Stadt kochte. Neuerdings vielleicht sogar die so kluge wie vergnügte Madam Büsch mit der Vorliebe für das Kartenspiel. Die Gattin des überaus gelehrten Professors für Mathematik am Akademischen Gymnasium und Leiters der neuen Handlungs-Academie, hatte die junge Madam Vinstedt schon zweimal an ihren Teetisch geladen, und keiner der anderen Gäste hatte sie geringschätzig angesehen oder behandelt – nur neugierig, das allerdings. Doch das störte Rosina nicht, daran war sie gewöhnt.
Nicht zu vergessen die alte Hebamme Matti, die mit der knurrigen, nicht minder betagten alten Lies in ihrem behaglichen Haus inmitten eines Gartens voller Medizinkräuter auf dem Hamburger Berg lebte. Lies hatte wie Rosina zu den Becker’schen Komödianten gehört, bis sie in Matti die geliebte Freundin ihrer jungen Jahre wiedertraf und sich endgültig von Bühne und Wanderleben verabschiedete.
Dies war eine beachtliche Liste, es gab wahrhaftig keinen Grund zur Melancholie.
Die Gedanken hatten sie hellwach werden lassen. Sie schlüpfte aus dem Bett und zog die Vorhänge auf.
Das Schlafkammerfenster gab den Blick in einen Innenhof frei. Die einst hier angelegten Gärten waren schon so lange verschwunden, dass sich niemand mehr an sie erinnerte, nur ein paar knorrige Apfel- und Birnbäume, deren bemooste Äste keine Früchte mehr hervorbrachten, erinnerten, Gespenstern gleich, an die Vergangenheit. Tatsächlich sah man von diesem Fenster weniger einen Hof als eine Ansammlung von Holzdächern und Verschlägen. Mitten hinein in dieses Schuppenlabyrinth war erst vor wenigen Jahren ein Mietshaus gebaut worden, nur drei Etagen hoch und handtuchschmal, die Wohnungen darin waren eng, die Wände dünn, und es hieß, es regne schon durchs Dach.
Die Schuppen dienten bis auf die beiden kleinen Werkstätten eines Schusters und eines Fächermachers den Bewohnern der umliegenden Häuser zur Lagerung von Nützlichem und Überflüssigem. Das Holzhäuschen des alten Fächermachers stand seit einigen Monaten leer, das neue Haus hatte seine Werkstatt zur dunklen Kammer werden lassen, dort konnte er die Arbeit mit all ihren Feinheiten nicht mehr ausführen.
Den Schuppen neben der geschlossenen Werkstatt hatten die Vinstedts gemietet, die eine Hälfte für ihren Vorrat an Holz, Torf und Kohlen, die andere als Stall für Magnus’ Pferd. Rosina wunderte sich, dass die Werkstatt des Fächermachers noch nicht wieder vermietet war, schließlich hörte man alle Tage von dem stetig wachsenden Mangel an Raum innerhalb der
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