Mit den Augen eines Kindes
allen Richtungen betrachtet hatte, wollte ich Jochen anrufen. Doch ich kam nicht dazu.
Schon im Treppenhaus hörte ich das Telefon klingeln, wieder und wieder. Ich dachte an Mutter, Matthias und die entrüstete Frage: «Was fällt dir ein, einfach abzuhauen, wenn wir mit dir reden wollen?»
Nach einem weiteren Vortrag war mir nicht. Mit dem Aufschließen der Tür ließ ich mir Zeit, bis das Klingeln aufhörte. Doch kaum hatte ich mich in einen Sessel gesetzt, begann es von neuem, zehnmal, zwölfmal, Stille, und wieder von vorne, zehnmal, zwölfmal, Stille, und noch einmal. Ich saß zu weit weg, um einen Blick aufs Display zu werfen.
Und als ich nach einer halben Stunde zu der Erkenntnis kam, dass kein Mitglied meiner Familie ein Telefon bis zum Abwinken läuten ließ, als ich endlich den Hörer abnahm und mich mit einem knappen «Ja» meldete, sagte Maren mit rauer, gedrängter Stimme: «Na endlich, Konni. Ich versuche schon seit einer Stunde, dich zu erreichen. Kannst du reden?»
Ich wusste nicht, ob ich konnte, und machte erst gar keinen Versuch. Sie interpretierte mein Schweigen falsch. «Alles klar, lass dir etwas einfallen, um wegzukommen. Ich muss dich unbedingt sehen, sofort, es ist sehr wichtig.»
Als ich immer noch keinen Ton über die Lippen brachte, wurde sie wütend. «Verdammt, Konni, spiel jetzt nicht den Heldenvater. Ich fahre in ein paar Minuten nach Köln und sehe dich in spätestens einer Stunde im Hotel, Zimmer zweihundertfünf.»
Es war ihr erster Satz, der in mir etwas zum Einsturz brachte. Spiel jetzt nicht den Heldenvater! Ich war in dem Moment verdammt sicher, dass sie am vergangenen Montag zu Rex gesagt hatte, er solle die Kinder holen. Eins dieser Kinder war mein Sohn gewesen. Und das hatte sie schon gewusst, als sie ihn in Godbergs Garten sah. Ich hatte ihr doch beim Klassentreffen das neueste Foto von Oliver gezeigt. Ich hatte am Dienstag Andreas Nießen zu Godbergs Nachbarn geschickt. Welchen Grund es am Freitagabend gegeben haben könnte, mich nach Köln zu bestellen, wusste ich nicht. Vielleicht einfach nochmal nachhaken. Hätte ja sein können, dass ich mich anders verhielt, wenn bereits Ermittlungen im Gang gewesen wären. Und jetzt. Sie hatte gestern mein Auto vor Godbergs Haus gesehen. Und vor einer Stunde war dieses Auto am roten Golf vorbeigefahren.
Endlich bekam ich die Stimme frei. «Nein.»
«In einer Stunde», wiederholte sie. Dann war die Leitung tot.
Es war kurz vor sechs, ich wusste nicht, wie lange Hanne noch an der Geburtstagsfeier teilzunehmen gedachte. Vielleicht nahm sie an, ich sei nur nach Hause gegangen, weil ich meine Ruhe haben wollte. Mit etwas Glück war ich wieder da, ehe sie kam. Und mit noch mehr Glück wusste ich dann, ob ich mich nur verrückt machte. Ich hatte nicht vor, nach Köln zu fahren, wollte mich nur überzeugen, dass Maren auf dem Weg zum Hotel war, und dann mit Alex Godberg sprechen.
Ich fuhr sofort runter, parkte in einer Querstraße, wartete. Nach einer Viertelstunde war immer noch kein silberfarbener Omega vorbeigefahren. In ein paar Minuten, hatte sie gesagt. Wenn sie sofort losgefahren war, musste sie längst auf der Autobahn sein. Ich stieg aus und ging bis zur Straßenecke. Vor Godbergs Grundstück parkte ein Lieferwagen mit offenen Hecktüren. Im Laderaum sah ich drei Teppichrollen. Zwei junge Männer liefen geschäftig zwischen dem Hauseingang und den Hecktüren hin und her, jedes Mal beladen mit einer weiteren Rolle. Ab und zu erschien auch Alex in der Haustür und überwachte die Aktion. Insgesamt zählte ich zwölf Teppiche, ehe der Lieferwagen abfuhr und die Haustür geschlossen wurde. Geöffnet wurde sie danach nicht mehr, obwohl ich ziemlich lange auf den Klingelknopf drückte, gegen die Haustür klopfte und nach ihm rief.
Also fuhr ich doch nach Köln – in der Absicht, Maren ins Kreuzverhör zu nehmen. Erst kurz vor der Abfahrt Köln-West wurde mir klar, dass ich ihr keine Fragen stellen und auf gar keinen Fall ihr Misstrauen wecken durfte. Wenn mein Sohn letzten Montag nicht Zeuge einer familiären Auseinandersetzung geworden sein sollte, sondern eine Entführung beobachtet hatte. Allein die Vorstellung drehte mir den Magen um, mein Olli. Und wie hieß es in solchen Fällen immer: «Keine Polizei.» Am liebsten hätte ich kehrtgemacht. Aber mit ihrem Drängen im Hinterkopf fuhr ich weiter.
Was so wichtig war, erfuhr ich nicht. Anscheinend ging es nur um das Übliche. Und mein Verhalten, vielmehr meine Reaktion
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