Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
und schluchzte. Für einen flüchtigen Augenblick wurde Bazza zu Carl, der sie früher so oft und fest im Arm gehalten hatte.
Carl war ein Mann der Umarmungen und Zärtlichkeiten gewesen. Wie ein großer Bär hatte er sie stets in die Arme genommen. Wann immer man es brauchte oder nicht brauchte. Evelyn dagegen hatte nie freigiebig Zärtlichkeiten verteilt. Viele Jahre lang war Carl von der Arbeit gekommen und hatte sie und die beiden Jungen regelmäßig zur Begrüßung in seinen überschwänglichen Umarmungen fast erstickt. Und Nacht für Nacht hatte Evelyn zögernd und verlegen seine Zärtlichkeiten erwidert und sich beinahe wie eine Schwindlerin gefühlt. Dann, an dem Tag, an dem ihr Vater mit neunundsechzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, war Carl früher von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sie mit einer seiner warmen, erstickenden Umarmungen getröstet. Sie wollte die Geste auf ihre übliche verlegene Weise erwidern. Doch ohne es zu merken, hatte sie sich vorbehaltlos in seine Arme geschmiegt und die Geste so heftig erwidert, dass sie beinahe glaubte, das Knacken seiner Rippen zu hören.
Von da an war auch aus Evelyn eine Frau geworden, die freizügig Umarmungen verteilte. Sie war von da an die Erste, die Carl an der Tür liebevoll empfing. Sie nahm die Jungen jeden Abend vor dem Schlafengehen in die Arme, kuschelte lange und zärtlich mit ihnen, atmete den Geruch ihrer Haut – eine Mischung aus Schmutz und Sirup – ein (gleichgültig, wie gründlich sie gebadet oder die Zähne geputzt hatten). Sie umarmte die Schwester, wenn sie sich zu einerTasse Kaffee trafen, und ignorierte dabei Violets skeptische Blicke. Über fünf Jahre lang war Evelyn eine Frau, die bereitwillig Herzlichkeit verbreitete – bis einige Wochen nach Carls Tod. In der Anfangszeit nach seinem Tod tat sie ihr Bestes, die Familientradition weiterzuführen. Sie versuchte Carls Persönlichkeit, seine nonchalante, lockere Art im Umgang mit den Jungen anzunehmen, reagierte mit Nachsicht, als sich die beiden bei seiner Beerdigung prügelten. Sie redete vernünftig mit ihnen, behandelte sie wie Erwachsene, verfuhr nach dem Motto »Im Zweifel für den Angeklagten«, umarmte Andrew wie immer, unterließ es jedoch in der Öffentlichkeit bei James, der in dieser Beziehung schüchterner war.
Aber Evelyn hielt es nicht durch. Nach einigen Wochen, die sie selbst ohne Umarmungen hatte auskommen müssen, fiel sie in ihr altes Verhaltensmuster zurück, disziplinierte die Kinder mit strengen Worten und Klapsen auf den Hintern – wenn nötig, auch mit dem Kochlöffel. Das abendliche Kuscheln vor dem Zudecken wurde durch einen flüchtigen, halbherzigen Kuss auf die Stirn ersetzt. Bei Evelyns erstem Zusammentreffen mit Violet nach CarlsTod ging diese in Erwartung der üblichen Umarmung mit ausgestreckten Armen auf die Schwester zu. Evelyn jedoch tat nichts dergleichen, gab Violet lediglich einen Klaps auf die Schulter. Violet wirkte enttäuscht, aber keineswegs überrascht. Selbst die Schwester hatte erkannt, dass es mit den Umarmungen vorbei war.
Draußen vor dem Lagerhaus von SkyChallenge konnte Evelyn, zumindest für den Augenblick, Ruhe und Trost in den Armen eines anderen Menschen finden.
Bis Bazza alles zunichtemachte, indem er ihr ins Ohr flüsterte: »McGavin, Ihr Glück, dass Sie nicht ein paar Jahre jünger sind. Sonst hätten Sie mir jetzt eine geklebt, und ich müsste den Jungs erklären, dass der Boss mich gerade wegen sexueller Belästigung einer Kundin gefeuert hat!«
Evelyns Schluchzen ging in Lachen über. Sie schubste ihn von sich und kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch.
»Okay. Aber jetzt gehen wir alle gemeinsam einen trinken«, verkündete Bazza, packte sie beim Ellbogen und schob sie zurück zum Hangar. »Ich trommle nur schnell die restliche Crew zusammen, dann kann’s losgehen.«
Auf dem Weg zu einem nahe gelegenen Irish Pub dachte Evelyn darüber nach, was Bazza zu ihr gesagt hatte. Er behauptete, sie gut zu kennen, und hatte doch ein völlig anderes Bild von ihr als das, das sie jeden Morgen im Spiegel sah. Sie hatte das Gefühl, als erkenne er hinter der Maske ihr altes Ich. Die Person, die sie vor Carls Tod gewesen war, bevor sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und von der Welt ausgeschlossen hatte. Begann sie sich jetzt zu ändern? War es das Glücksgefühl beim Sprung mit dem Fallschirm, das die harte Schale knackte? Oder sah nur Bazza etwas in ihr, das den anderen
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