Mit Familienanschluß
Wandersleut' zur Freud' …«
»Von wem ist denn das?« fragte Dorothea erstaunt. Wenn Wolters Verse deklamierte, waren es bisher immer Klassiker gewesen.
»Es fiel mir gerade so ein.« Wolters blickte interessiert auf den rauschenden Wasserfall.
Dorothea zupfte an ihrem weiten Faltenrock. »Eigenbau?« fragte sie.
Wolters überhörte es und umging damit eine Antwort. Er versuchte, Eva die Geologie der Alpen zu erklären – etwas, das sie natürlich längst in der Schule gelernt hatte.
Er dichtet, dachte Dorothea, nun doch betroffen. Muckel dichtet! Vielleicht ist es ihm selbst nicht bewußt … aber diese Eva muß ihn sehr gepackt haben. Sein letztes Gedicht hat er mir im Krankenhaus nach Walters Geburt feierlich überreicht, auf einem Bogen Pergament, geschrieben in gotischer Schrift, mit reichen Verzierungen am Blattrand. Es hängt eingerahmt im Schlafzimmer.
Danach erlahmte seine Dichtkunst tragisch schnell. Er wurde immer trockener. Um so alarmierender ist es, daß er nun wieder in Versen denken kann …
Das Hotel, in dem man übernachten wollte, stand am Rande eines kleinen Ortes in einem weiten Tal. Es sah freundlich und sauber aus, war im alpenländischen Stil gebaut und hieß ›Alpenblick‹. Da – wir wissen es – die Logistik stimmte und sich beim ersten Blick auch diese Empfehlung des Kollegen Dr. Simpfert als gut erwies, wurden Wolters' schon erwartet – und zwar mit großer Neugier. Der Wirt klopfte Hermann auf die Schulter, was den verwunderte, was aber anscheinend landesüblich war, und meinte augenzwinkernd:
»I hab an große Flasch'n Enzian z'ruckgelegt … Im alten Versteck!«
Wolters war etwas verwirrt, grinste dümmlich und wartete, bis Walter und die Damen das Gepäck auf die Zimmer geschafft hatten. Manfred hatte einen struppigen Hofhund entdeckt und fütterte ihn mit Keksen.
»Ich trinke gar keinen Schnaps«, sagte Wolters. »Enzian schon gar nicht.«
»Aber Ihr Freund …«
»Mein Freund?«
»Dös war an Schlucker!«
»Kollege Dr. Simpfert?«
»Jo mei … jeden Abend b'soffen …«
»Jeden Abend! Wie lange war er denn hier?«
»Ja, so fünf Tag' …«
»Auf der Durchreise …?«
»Schneller hat er's nie gepackt. Mei Enzian – und dann dös Madl …«
»Was denn für ein Madel?«
»Na, die Berta, das Stubenmadl. A stramm's Weiberl. Der Herr Doktor, jo mei … die Berta hat a Freid g'habt … Die Berta macht auch Ihr Zimmer.«
Wolters stieg nachdenklich die Treppe hinauf. Kollege Simpfert schien bei seinen Reisen an die Riviera eine nachhaltige Spur hinterlassen zu haben. Es warf sich jetzt nur die Frage auf, ob es eine Empfehlung war, von ihm empfohlen zu sein, und was einen noch weiterhin erwartete. Schließlich war diese Reise auf den Erfahrungen von Dr. Simpfert aufgebaut worden. Hermann Wolters kamen die ersten Bedenken.
Auf dem Flur begegnete ihm Berta, das Stubenmadl. Es knickste und grinste. Berta war klein und pummelig, trug ein Dirndlkleid, aus dem der Busen quoll, und hatte große, runde Knopfaugen.
Wolters grüßte knapp und distanziert zurück. Kollege Dr. Simpfert – Sie sind wieder einmal ein Beispiel für die stillen Wasser, die abgrundtief sind!
In dieser Nacht schlief Wolters schlecht. Das Zimmer war klein, man mußte wegen der Luft das Fenster offen lassen, was wiederum bewirkte, daß Wolters das Brummen aus dem angebauten Kuhstall hörte und alle sonstigen Geräusche ebenfalls, vom Stampfen der Kühe über das Kettenrasseln bis hin zum Geschrei der Katzen.
Gegen Mitternacht stand er auf, trat ans Fenster und atmete tief die würzige Nachtluft ein. Dorothea, die durch sein Aufstehen geweckt worden war, blieb stumm liegen und spielte die Schlafende.
Unten auf einer Bank im Hof saß Eva Aurich in der mondhellen Nacht. Sie trug einen kurzen, rosa Bademantel und sah wie eine Elfe aus. Warum sie allein mitten in der Nacht auf einer Bank saß, rührte Wolters an, aber Dorotheas Anwesenheit machte es ihm unmöglich, sich darum zu kümmern.
Er blieb am Fenster stehen, betrachtete unentwegt das schöne Bild und überlegte, ob er Eva morgen darauf ansprechen oder ob er die nächtliche Episode als ein gemeinsames Geheimnis in seinem Herzen verschließen sollte.
Sie muß irgendeinen Kummer haben, dachte er. Ein junges Mädchen setzt sich nicht ohne Grund um Mitternacht draußen auf eine Bank …
Er schlich zum Bett zurück, schob sich unter die Decke und beugte sich über Dorothea. Sie schlief fest, so schien es jedenfalls, und blähte beim Atmen die
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