Mit Haut und Haar: 6. Fall mit Tempe Brennan
Verlust. Litt mit allen Tamelas dieser Welt und ihren Babys.
Ich streckte die Hand aus und legte sie auf die ihre. Sie zog sie zurück und legte beide Hände in den Schoß.
»Hast du das Baby in den Holzofen gelegt?«, fragte ich sanft.
Sie nickte.
»Hat Darryl gesagt, du sollst das tun?«
»Nein. Weiß auch nich, warum ich es getan hab, hab’s einfach getan. Darryl glaubt ja immer noch, es ist sein Baby, fährt voll ab auf den Vatertrip.«
»Verstehe.«
»Keiner hat diesem Baby was getan.« Tränen glitzerten auf ihrem Gesicht, und ihre knochige Brust hob und senkte sich unter dem Polyester. »Es wurde einfach geboren und wollte tot sein.«
Tamela wischte sich wieder über die Wangen, und Wut und Trauer spiegelten sich in dieser derben Bewegung. Dann krümmte sie die Finger und stützte die Stirn auf die Fäuste.
»Du konntest es nicht wieder beleben?«
Tamela konnte nur den Kopf schütteln.
»Warum bist du untergetaucht?«
Über ihre Fingerknöchel hinweg schaute Tamela Geneva an.
»Mach«, sagte Geneva. »Wir sind hier. Jetzt erzähl ihr alles.«
Tamela atmete ein paarmal zittrig aus und ein.
»Eines Tages bekommt Darryl Streit mit Buck. Buck sagt ihm, dass ich ihn zum Narren gehalten habe und dass das Baby seins is. Darryl dreht durch, denkt, ich habe sein Baby umgebracht, um ihm eins auszuwischen. Er sagt, er findet mich und macht mich fertig.«
»Wo hast du dich versteckt?«
»Im Keller einer Cousine.«
»Ist dein Vater jetzt dort?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Daddy is bei seiner Schwester im Sumter. Sie kam her, um ihn abzuholen, aber mit uns wollte sie nix zu tun haben. Meinte, wir sind ’ne Teufelsbrut und werden in der Hölle schmoren.«
»Warum seid ihr zu mir gekommen?«
Keine der beiden wollte mir in die Augen schauen.
»Geneva?«
Geneva hielt den Blick auf ihre Finger an der Coke-Dose gesenkt.
»Wir sagen’s ihr«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Tamela zuckte nur die Achseln.
»Heute Morgen hämmert die Cousine an unsere Tür, schreit, dass ihr Mann meine Schwester zu oft anschaut, schreit, dass wir verschwinden sollen. Daddy is böse auf uns, die ganze Familie is böse auf uns, und Darryl will uns umbringen.«
Geneva hatte den Kopf so tief gesenkt, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber ihr zitternder Pony verriet ihre Verzweiflung.
»Wir mussten da weg, aber wir können nich nach Hause, falls Darryl wieder rauskommt und uns sucht.« Sie hielt kurz inne.
»Wir wussten nicht mehr, wohin.«
»Ich bin kei…«, setzte Tamela an, konnte den Satz aber nicht zu Ende bringen.
Nun streckte ich beide Hände aus und legte sie auf die der Schwestern. Diesmal zog Tamela die ihre nicht zurück.
»Ihr bleibt bei mir, bis ihr wieder gefahrlos nach Hause könnt.«
»Wir stehlen auch nix«, murmelte Tamela. Es war die Stimme eines verängstigten Kindes.
Genau fünf Minuten lang ging ich mit Boyd hinaus. Dann brachten wir eine halbe Stunde damit zu, Handtücher und Bettzeug für die Schlafcouch hervorzukramen. Als die Banks-Schwestern schließlich versorgt waren und Boyd trotz Genevas Einwände ein Plätzchen im Arbeitszimmer gewährt worden war, war es weit nach elf.
Da ich zum Schlafen viel zu aufgewühlt war, nahm ich den Laptop mit ins Schlafzimmer, loggte mich ein und setzte meine Klinefelter-Recherche fort. Nach zehn Minuten klingelte mein Handy.
»Was ist denn los?«, fragte Ryan besorgt, als er die Anspannung in meiner Stimme hörte.
Ich erzählte ihm von Geneva und Tamela.
»Bist du sicher, dass das legal ist?«
»Ich glaube schon.«
»Na ja, aber sei vorsichtig. Könnte ja sein, dass dieser Wichser Tyree sie geschickt hat.«
»Ich bin immer vorsichtig.« Den Augenblick der Unsicherheit wegen des Schlosses brauchte ich ja nicht zu erwähnen. Oder wegen der nicht eingeschalteten Alarmanlage.
»Du musst erleichtert sein, dass die Banks in Sicherheit sind.«
»Ja. Und ich glaube, ich habe noch etwas anderes entdeckt.«
»Hat es etwas mit Fraktalen zu tun?«
»Schon mal was vom Klinefelter-Syndrom gehört?«
»Nein.«
»Was weißt du über Chromosome?«
»Dreiundzwanzig Paare. Für mich reicht das.«
»Das würde darauf hindeuten, dass wenigstens etwas an dir normal ist.«
»Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt gleich viel mehr über Chromosome erfahre.«
Ich ließ ihn meinem Schweigen lauschen.
»Okay.« Ich hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde und er tief inhalierte. »Bitte?«
»Wie du so treffend bemerkt hast, haben genetisch
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