Mit Jockl nach Santiago
wir bei einer Weggabelung, mangels Hinweisschildern, einfach die bessere der beiden schlechten Straßen als die richtige annehmen. In einem steten Anstieg erklettert Jockl in kontinuierlichen Takten Meter für Meter, und das immer im Schatten, was uns bald in der Kiste nach unseren Pullovern kramen läßt. Dunkle Flecken auf der Straße und tropfenglitzerndes Buschwerk beiderseits an den Hängen erinnern noch an den nächtlichen Regen. Dem Wald entströmt ein typisch modriger Geruch nach feuchter Erde und frischer Nässe, den wir einatmen wie einen lange nicht mehr geschnupperten Parfümduft. Eine gute Stunde später liegt der erste Paß - der 1250 m hohe Cóllado de Faidella - bereits hinter uns, dazu ein Stehkaffee aus der Thermoskanne zum Aufwärmen, die Augenblicke gewinnen an Spannung, denn hinter jeder Kurve überrascht ein anderes Bild. Mal trudeln die Blicke hinunter in ein tiefes Tal, aus dessen Schattengeborgenheit ein blaugrünes Flußband schimmert; mal hangeln sie sich an den Fixbaken in den Kletterwänden in schwindelerregende Höhen, springen wie Gemsen von Fels zu Fels und gleiten wie Adler über einem Meer schroffer Zacken, Grate und Kämme, die aus dem grünen Tal hervorbrechen wie schiefstehende Zähne eines Raubtiergebisses. Zwischendurch erstrecken sich wieder Gebiete mit Almcharakter, besonders nach dem Winzigdörfchen Bóixols, das mit seiner kleinen Kirche unsere zwischen Höhen und Tiefen hin- und herflatternden Blicke wieder kurz in Augenhöhe hält. Den zweiten Paß erklimmen wir keine zehn Kilometer später, wo die waldreiche Auffahrt zum 1380m hohen Cóllado de Bóixols vor einer Bergkulisse endet, die Meisterin Natur nicht herrlicher hätte gestalten können. Bewaldete Hänge fließen in weichmodellierte Senken ein; stumpfe, abgewitterte Felsen durchbohren geschlossene Wald- und Wiesenflächen und ragen als Miniaturausgabe einer unmittelbar dahinterliegenden Bergkette in den Himmel, dahinter sich wiederum weitere Gebirge türmen bis sie sich in der Diesigkeit des Horizonts verlieren. Einfach überwältigend! Man möchte Vögel sein, sich in die Lüfte schwingen und einen halben Tag lang vergessen, wie vergleichsweise schwerfällig man sich doch auf zwei Beinen durch die Lande bewegt. Wolfgang fotografiert alibihalber, wohlwissend, daß eine Foto- und Diawiedergabe nur ein unbefriedigender, unzureichender Abklatsch dessen sein wird, wovor wir einmal wie angenagelt standen, obwohl wir eigentlich vor »Gipfelglück« abheben wollten.
Immerhin bleibt uns noch eine traumhafte Talfahrt nach Coli de Nargó. Auf einer äußerst gewundenen Straße schlängeln wir uns allmählich zwischen den immer niedriger werdenden Bergen der Sierra de Carreu und der Sierra de Sant Joan hinaus. Irgendwann bleiben auch die letzten Felsen zurück, die Täler nehmen vertrautere Formen an mit einem Vielerlei an Baumarten und Wiesen, deren Grün in meinen Pupillen förmlich lodern muß. Ah, dieses Grün, dieses herrlich satte Grün! Nach all den vertrockneten, struppigen Grasbüscheln empfinde ich es als eine unbeschreibliche Augenweide. Am liebsten würde ich wie eine Kuh einen Fleck Wiese abgrasen, um mir dieses Grün auch auf diese Art noch einzuverleiben, denn es nur zu sehen, scheint mit zu wenig. Noch nie hatte das Fehlen einer bestimmten Farbe für mich eine beinah »fressende« Auswirkung zur Folge. Obwohl, schon als Kind reagierte ich auf das erste Frühlingsgrün mit ungewöhnlicher Begeisterung und Staunen, wenn nach monatelangem Winter plötzlich zarte, grüne Hähnchen aus dem matschbraunen Boden spitzten. Für mich war das jedesmal eine Entdeckung - ein grünes Wunder! Und genau dieses Wunder wiederholt sich heute in verstärktem Maße, und bis Coli de Nargó sehe ich kaum noch etwas anderes als sagenhaft grünes Grün. Dort mündet unser »broken road« in die von Andorra kommende C1313, und mit ihr stellt sich auch schlagartig das »ultimative« Sitzgefühl wieder ein.
Wie auf Samt rollen wir zwölf Kilometer entlang des Panta d’Oliana links und den senkrechten Wänden des 1611m hohen El Coscollet rechts von uns Richtung Oliana. Am südlichen Zipfel des Stausees spuckt uns das abrupt endende Gebirge wie einen Kirschkern aus, und wir finden uns im weiten Tal des altbekannten Río Segre wieder, das wir nach zehn Kilometer bei der Abzweigung nach Solsona erneut verlassen. Eine beschauliche Landschaft, die ihre zunehmende Dramatik einer heranziehenden Gewitterfront verdankt, begleitet uns durch den
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