Mit Jockl nach Santiago
Jahrhundert. Oloron hat seit jeher als große Station vor dem Pyrenäenübergang besondere Bedeutung - früher sicher noch mehr, als sich Jakobspilger aus ganz Europa in Oloron für ihren anstrengenden Marsch durch das Aspe-Tal hinauf zum Col du Somport rüsteten, um von dort auf dem spanischen Jakobsweg Santiago zu erreichen. Ich will mich auch rüsten und verzichte deshalb auf alle Kultur in und um Oloron; meine unterkühlte Blase darf in diesem Fall mit mehr Aufmerksamkeit rechnen, als Zeitzeugen vergangener Jahrhunderte.
Der erste Kaffee am Morgen wird kalt - uns auch! Gerade bringt das TV eine ausführliche Sonderberichterstattung zu der überraschenden Wetterwende: fünfundzwanzig Zentimeter Neuschnee am Tourmalet, keine 30 Kilometer südöstlich von Lourdes. Die Bilder im Fernsehen sprechen für sich: weiße Hänge wie im tiefsten Winter und das nun bald Anfang Juli - Halleluja! Sollten wir uns vielleicht noch Schneeschaufeln kaufen? Zwar führt unsere Route nicht über den 2115m hohen Col du Tourmalet, sondern nur über die 1632 Meter des Col du Somport, doch zu frieren gibts da wie dort genügend. Außerdem dämmern einige Teile unserer Ausrüstung, darunter auch einiges an Gewandung, noch immer im Zustand feuchter Muffigkeit dahin. Das kann ja amüsant werden.
Sorgfältig schlichten wir vor dem Hotel alles in die Jocklkiste, säuberlich getrennt je nach Stand der Trockenheit. Dabei belagert uns eine begeisterte Dame mittleren Alters mit geradezu fanatischer Neugier. Sie will einfach alles wissen, und böten wir ihr einen Platz auf dem Jockl an, so wärs für sie sichtlich ein vorgezogenes Weihnachtsfest. Bei unserer Fahrt durch das Aspe-Tal überholt sie uns kreuzfidel mit ihrer Citroen-Ente und wartet einige Kilometer weiter, bis wir übermütig winkend an ihr vorbeirattern. Eigentlich wollten wir noch unseren Proviant auffüllen, doch das verschieben wir auf Spanien. Fast 90 Kilometer bis Jaca stehen uns bevor, und wir wollen die momentane Regenlosigkeit nützen, um gut voranzukommen.
Gottlob wenig Verkehr auf der anfangs noch recht gut ausgebauten Straße hinein in die Bergwelt der Pyrenäen. Mit jedem Kilometer gewinnen wir langsam an Höhe; liegt Oloron noch auf niedrigen 221 Metern, so tuckern wir acht Kilometer weiter bei Saint-Christau bereits auf einer Höhe von 320 m. Noch verläuft die Straße in einer mäßigen Geraden direkt auf die Bergriesen zu. Das Wunder der vergangenen Nacht bekommen wir bald zu sehen, als die Wolken sich über den Berggipfeln teilen, auseinanderschweben und blendende Schneefelder enthüllen. Für einige Sekunden fallen sonnige Lichtblitze auf das hochgelegene Wintermärchen, dabei wölben sich Wiesenkuppen plastisch aus dem Grüneinerlei, und Taleinschnitte weichen in unergründliches Walddunkel hinab. Farben wechseln in der Geschwindigkeit der Lichtstimmungen und lösen überschwengliche Begeisterung bei uns aus. In Bedous, einem größeren Ort im Aspe-Tal, wird uns eine Pause recht. Bei Sonnenschein mag das Dorf ganz annehmbar wirken, nur jetzt, unter turbulent bewölktem Himmel, während eines Spaziergangs zwischen dunkelgrauem Gemäuer, drückt eine, mit jedem Stein greifbar gewordene, Depression auf die Seele. In einem Café, zugig wie in einem Stall und finster wie in einem Fuchsbau, versuchen wir, uns und unsere Seelen vergeblich zu wärmen.
Die Berge wachsen allmählich zu großartigen Dimensionen heran. Das Tal verengt sich zusehends mit immer wieder überraschenden Einblicken beiderseits der Straße in zauberhafte Tal-Landschaften mit senkrechten Wänden, Wasserfällen, schroffen Felszacken und einsam gelegen Gehöften und Hütten auf steilen Hängen. Mehrmals wechselt ein Schienenstrang der französischen Eisenbahn die Talseiten und windet sich im Zopfgeflecht von Straße und Fluß durch Tunnel und über Brücken, vorbei an stillgelegten Stationen, in höhere Regionen hinauf. Mit jedem gewonnenen Höhenmeter gewinnen auch unsere Nasen an Röte und die Finger an Taubheit. In Urdos, dem letzten Ort vor dem Paß und Zollstation, wartet auch ein letzter Café au lait auf uns, bevor wir die restliche Etappe zum Somport in Angriff nehmen.
In Kurven und Kehren - wir gedenken dabei intensiv der Pyrenäen-Überquerung mit unseren Rädern - nebelt Jockl unverdrossen mit seiner Tiefkühlbesatzung Richtung Spanien. Wolken schieben sich im Zeitraffertempo über die weißen Spitzen bis plötzlich wieder irgendwo die graue Decke reißt, auseinanderklafft und
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