Mit Yoga Lebensaengste bewaltigen
Freude« in Kapitel 5).
2. Was ist Yoga?
Ein ganzheitliches, systemisches Bewusstsein
Yoga ist ein über 2000 Jahre altes philosophisches System aus Indien, das sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter entwickelt hat und daher bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es betrachtet den Menschen als Ganzheit, bestehend aus Körper, Seele und Geist. Diese drei Wesensglieder bedingen und beeinflussen sich auf vielfältige Weise gegenseitig und befinden sich auch mit der Umwelt in ständiger Wechselwirkung. Indem Yoga dem Einfluss des Bewusstseins auf materielle Vorgänge, einschließlich der physiologischen Prozesse im Körper, einen großen Stellenwert einräumt, berührt es sich mit den Erkenntnissen der Relativitätstheorie und Quantenphysik, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts bei uns im Westen entwickelt haben.
Seit Einstein wissen wir, dass das einzige Reale das Feld ist und dass wir aus einem Bündel von Energien bestehen, das sich durch Interferenzen verdichtet hat. Objektive Ergebnisse sind im strengen wissenschaftlichen Sinne nicht möglich, da der Beobachter zum Feld gehört und durch seine Perspektive und seine Überzeugungen stets das zu Beobachtende mitbestimmt. Das Subjekt, die Ich-Position des Wissenschaftlers, der Wissenschaftlerin beeinflusst das Objekt, das Phänomen, das untersucht werden soll. Und umgekehrt übt das Objekt einen Einfluss auf das Subjekt aus.
Ähnliche Resultate finden wir auch im Yoga: Das Beobachten des Atems verändert den Atem. Der veränderte Atem seinerseits wirkt auf die Übenden, ihr Denken und Fühlen zurück. Eine bewusste, von wacher Achtsamkeit begleitete Bewegung verändert den Bewegungsablauf, er wird ökonomischer, besser durchgestaltet und effizienter, eine formvollendete Bewegung löst ihrerseits harmonisierende Prozesse im Atem und im Gehirn aus.
Ähnlichkeiten bestehen auch zu dem konstruktivistischen Denkmodell, das mit folgendem Spruch gut auf den Punkt gebracht wird:
»Ob du nun glaubst, dass du etwas tun kannst,
oder ob du glaubst, dass du es nicht kannst,
du wirst in beiden Fällen recht behalten.«
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass die Produkte unseres Denkens nur etwa die Hälfte dessen abbilden, was tatsächlich gegeben ist. Die andere Hälftewird durch unsere meist unbewusst ablaufenden Bewertungen, Programmierungen und Filter bestimmt. Wenn etwa eine gegebene Konstellation als Krise bezeichnet wird, verbirgt sich in dieser Beschreibung bereits eine Interpretation. Die gleiche Situation ließe sich auch anders beschreiben, z. B. als Herausforderung zum Wachstum. In diesem Sinne setzt sich auch Angst aus objektiven Tatsachen und deren Bewertung zusammen. Wie wir einen Schicksalsschlag interpretieren, hängt von gemachten Erfahrungen ab, die unser Gefühl von Kompetenz und Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit geprägt haben.
Diese Prozesse laufen in aller Regel unbewusst ab. Yoga gibt uns Mittel an die Hand, mit denen wir uns diesen zweiten, unterschwelligen Teil jenseits der Fakten bewusst machen und ihn kultivieren können. Durch Bewegung, Atem und fokussierendes Bewusstsein konstruieren wir unser seelisches Erleben und unseren physischen Körper.
Die Philosophie des Yoga ist konsequent systemisch: Alle Zellen im menschlichen Körper haben Einfluss auf das große Ganze. Und umgekehrt beeinflusst der Gesamtorganismus, bestehend aus unserem Körper, unserem Fühlen und unserem Denken, seinerseits jede einzelne Zelle, jedes Gewebe, jeden Knochen usw. Wenn an einer Stelle des Körpers etwas fehlt oder blockiert ist, hat dies Auswirkungen auf alle anderen Teile. Die drei Systeme, die durch die Übungen des Hatha-Yoga entwickelt und gepflegt werden – der Körper, der Atem und der Geist – hängen unmittelbar zusammen und beeinflussen sich in jeder Minute im Sinne einer Rückkopplungsschleife gegenseitig.
Jeder Mensch ist geprägt durch die Zeit, Kultur und Umwelt, in der er lebt, und trägt seinen, wenn auch kleinen Anteil dazu bei, wie die Welt, in der er lebt, beschaffen ist. Damit steht das Yoga-System im Gegensatz zu einem naturwissenschaftlichen Denken, das bei uns im Westen lange Zeit üblich war: Zusammenhänge werden linear, kausal im Sinne von Ursache-Wirkungs-Beziehungen erklärt. Für komplexe Systeme wie den menschlichen Geist, der sich zudem noch in seiner lebendigen Dynamik von toter Materie unterscheidet, braucht es jedoch den phänomenologischen Zugang, aus dem das Yoga-System entwickelt wurde.
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