Mit Yoga Lebensaengste bewaltigen
bildgebende Verfahren bei seinen Patientinnen und Patienten an der Universitätsklinik Essen feststellen, dass positive Erwartungen den Stoffwechsel bestimmter Hirnregionen stimulieren. So kommt es, dass bestimmte Botenstoffe die Ausschüttung von Hormonen anregen, wie z. B. Serotonin, was den Gefühlshaushalt und viele Organe beeinflusst. Angst und Schmerzen werden dadurch signifikant reduziert. Die moderne Hirnforschung liefert damit einen Wirksamkeitsnachweis für die alten christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. 60
Die Traumaforschung sieht im Fortbestehen von Hoffnungs- und Hilflosigkeit nach einer traumatischen Erfahrung die stärksten Stressoren, die ein Ankommen in der (normalerweise) ungefährlichen Gegenwart verhindern. Unsere Zeit neigt zu der übertriebenen Vorstellung, alles kontrollieren zu können: Gesundheit und Krankheit, Naturkatastrophen, Atomkraftwerke usw. Früher wurden Schicksalsschläge als gottgewollt interpretiert. Indem man durch Gebete und Rituale die Zukunft in Gottes Hand legte, ließ sich eine Entlastung erreichen. Nicht nur aus psychotherapeutischer Sicht spricht daher vieles dafür, sich mit einer höheren Instanz oder göttlichen Macht zu verbinden.
Yoga ist Selbstbegegnung
In der Einleitung habe ich die Zunahme von Ängsten und Burn-out-Phänomenen als Selbstverlust oder Verlust der Beziehung zur eigenen Seele bezeichnet und in Kapitel 1 die Angst vor der Selbstbegegnung thematisiert. Als ich mich mit einem befreundeten Abteilungsleiter über Urlaubsvorlieben unterhielt, sagte er mir: »Wir suchen uns immer einen Urlaub mit viel Programm aus, damit ich gar nicht erst ins Nachdenken und in die Entspannung komme, sonst klappt womöglich danach der Wiedereinstieg in den Berufsalltag nicht mehr.« Er hatte sich dafür entschieden zu funktionieren und wollte keine Ruhepause, die eine Möglichkeit zur Selbstbegegnung bieten könnte.
Yoga ist ein Weg der Selbstbegegnung, der – mehr oder weniger bewusst – von einigen Menschen vermieden wird. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es fast eine ganze Generation, die ein Nachdenken über die Erlebnisse im Nationalsozialismus und während des Kriegs scheute. Sich Zeit und Raum für das Erforschen des eigenen Innenlebens zu nehmen, führt manchmal zu Ergebnissen, die nicht nur angenehm sind. Von Hermann Hesse wird eine Begebenheit überliefert, die einen Anlass zum Schmunzeln bieten kann. Er träumte immer von einer Berghütte und meinte, wenn er eine solche besäße, in schöner Umgebung und mit herrlichem Ausblick, dann würde er rundherum glücklich sein (und bleiben). Sein Leben brachte es mit sich, dass er in den Besitz einer solchen Hütte kam. Aus Briefen wird deutlich, dass er sich entlarvt fühlte, als er feststellen musste: Es war die Vorstellung, die ihn glücklich machte, nicht der tatsächliche Besitz. 61 In der Zeitung las ich kürzlich einen Artikel über die neue Wir-Generation, die aus einer ähnlichen Erkenntnis heraus verschiedene Modelle des Teilens von Besitz entwickelt hat. Diese Menschen haben erkannt, dass der Besitz nur sehr kurzfristig glücklich macht und dass es für einen kurzfristigen Gebrauch eines Gegenstandes nicht des Besitzes bedarf.
Die Selbstbegegnung im Yoga beginnt mit einfachen Beobachtungsaufgaben wie z. B. dem Spüren, welche Muskeln zu schlaff und welche zu stark angespannt bzw. verspannt sind. Da der westliche Mensch sich wenig mit seinem Körper, sondern mehr mit seinen Gefühlen und noch mehr mit seinen Gedanken identifiziert, ist eine solche Fragestellung noch wenig schambesetzt. Ähnlich ist es bei der Anleitung, seine körperlichen Grenzen zu spüren (z. B. bei der Vor- oder der Rückbeuge); die Frage »Bist du jemand, der schnell über die eigenen Grenzen geht, oder machst du lieber schon vor der Grenze Halt?« berührt dagegen innerlich schon mehr.
Da im Yoga unsere Programme und Gewohnheiten lediglich als Hüllen gesehen werden, die man, vergleichbar mit Kleidern, wechseln kann, besteht ein wichtiger Aspekt des Yoga-Übens darin, sich nicht damit zu identifizieren, sondern sie lediglich gefühls- und wertneutral zu beobachten. Wenn eine Yoga-Übende – ohne es zu bewerten – öfters wahrnimmt, dass sie die eigenen Grenzen zu wenig respektiert, kann sie dies langsam ablegen. Wenn dagegen ein Yoga-Übender sich jedes Mal darüber ärgert oder mit sich schimpft, bleibt er gebunden an dieses Verhalten. Dies bringt der bereits erwähnte Satz aus der indischen Bhagavad Gita
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