Mit Yoga Lebensaengste bewaltigen
Schuleschwänzen, den Abbruch von Ausbildungen; ab der Pubertät kam es zu einer Drogenkarriere mit zunehmend harten Drogen.
Mir begegnet Katja zum ersten Mal im Alter von Anfang 20 Jahren. Sie wirkt dünn, ängstlich, zurückhaltend, die Schultern sind nach vorne zusammengezogen, etwas an ihr wirkt steif und schief. Immer wieder zählt sie auf, was an ihr nicht in Ordnung sei, was sie alles nicht könne, sie lässt kein gutes Haar an sich. In ihrer Vorstellung sind alle Menschen gefährlich, ganz besonders die Männer, aber auch unter Frauen kann sie keine Freundin finden, mit der sie gemeinsam Zeit verbringen mag. Tagelang halte sie sich zu Hause auf, ohne sich für irgendetwas zu interessieren oder zu etwas aufraffen zu können. Sie grübelt und träumt, träumt und grübelt. Sie traue sich auch nicht unter Menschen, weil sie so hässlich und missgestaltet sei und jeder sie ja ablehnen müsse. So verbringt sie Tag für Tag, allein mit ihrer Angst.
Nach einer Phase des langsamen Vertrauensaufbaus fragt sie mich nach Yoga. Sie hat erfahren, dass ich auch Yogalehrerin bin. Ich öffne das Fenster und mache zwei bis drei Übungen vor, die als Aufwärm- oder Anfängerübungen bekannt sind. Sie strahlt mich an. Es scheint Licht in ihre so dunkle Welt zu kommen. Die Beziehung zwischen uns bekommt eine andere Färbung: Während ich vorher in ihre Welt eingestiegen bin, bekommt sie nun das Angebot, in meine Welt einzutauchen. Es ist vergleichbar einer Mutter-Kind-Beziehung, wenn das Kind der Mutter beim Backen oder Putzen zuschaut und mithelfen will. Wir verabreden, dass wir die nächsten Sitzungen jeweils mit einer ca.10-minütigen Yoga-Sequenz beginnen. Nach diesem yogischen Eingangsritual braucht sie oftmals einige Zeit, um wieder in ihre Welt einzusteigen: Es scheinen zwei Energien miteinander zu kämpfen. Der Wunsch, weiter in dieser gleichzeitig nährenden und befreienden Stimmung zu verweilen, wird stärker.
Kontinuierlich findet ein Veränderungsprozess statt: Während es zunächst nur vereinzelte Inseln der emotionalen Lösung in unseren Sitzungen gab, fängt sie langsam an, auch zu Hause und alleine Yoga zu praktizieren. Da ihre Schutzhaltungen sich vor allem im Bereich der Schultern und des Brustkorbs befinden, beginnen wir mit den Herzöffnungsübungen (siehe die Übung »Krokodilvariation – Brust- und Herzraum öffnen« in Kapitel 3). Als Meditationsfokus biete ich die Affirmation an: »Ich kann mich für meine Mitwelt öffnen und wieder verschließen, beides ist gleich wichtig, beides geschieht zu seiner Zeit.« Hier ist dann viel Detailarbeit notwendig: Die Patientin lehnt ihr Misstrauen und ihre Angst gegenüber anderen Menschen ab und zwingt sich, die nach vorne gerundeten Schultern über die Schmerzgrenze hinaus nach hinten zu öffnen. Abwechselnd in der Übung und im Gespräch wird zunächst die Fähigkeit, sich verschließen zu können, als wichtiger Schutz gewürdigt, der auch heute noch sein darf und manchmal auch sehr nützlich ist. Über lange Strecken ist es wichtig, immer wieder diese Schutzhaltung achtsam zu respektieren und die heutigen Möglichkeiten zu erspüren. Der Wunsch nach Öffnung ist so stark, dass sie sich oftmals zu einer Bewegung zwingen will, für die es noch keine innere Bereitschaft gibt. In kleinen Schritten bekommt sie Kontakt zu ihrer Seele, und der Rhythmus von Öffnen und Verschließen wird authentischer. So können die Phasen der Öffnung langsam länger und weiter werden.
Das Thema des sich Schützens und Versteckens kann auch in anderen Übungen wie der Schildkröte (siehe Kapitel 2) gespürt und vertieft werden. Hier »schützt« die Erde: »Ich kann mich ihr anvertrauen. Ich sehe nichts und werde nicht gesehen.« Langsam wachsen auch die Neugier und der Wunsch, mehr am Leben teilzunehmen. So führt die Frage weiter: »Wann will ich ruhen und nichts von der Welt sehen, und wann entsteht das Bedürfnis zu schauen und mich zu zeigen?« Das Wahrnehmen der momentanen Befindlichkeit, die manchmal von Minute zu Minute wechseln kann, sowie der Grenze, wo es beginnt, unangenehm zu werden, findet parallel in der Übung und in ihrem Leben statt.
Ihr Leben wird zunehmend bunter und ihr Körper flexibler und geschmeidiger. Noch eine andere Übung wird für sie wichtig: Wir beginnen die Stunde mit dem Sonnengruß, einer Übungsreihe von zwölf Asanas, die vom aufrechten Stand über eine Vorbeuge hinunter zur Erde, zum tiefsten Punkt und von dort aus wieder langsam zum
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