Mithgar 12 - Der schwaerzeste Tag
Freies Volk wohnte, nahm man Freunde und Fremde auf, die in den Sturm geraten waren, und gewährte ihnen Schutz und Obdach in Hütten, Katen, Baumhäusern, Höhlen, Anbauten, Kellern oder welche Zuflucht auch immer zur Verfügung stand. Und das Essen wurde geteilt, ob spärlich oder reichlich vorhanden. Es war eine Zeit großer Not, und falls überhaupt, dann versagten nur sehr wenige ihre Hilfe.
Und auch wenn es noch niemand wusste: Die gewaltigen Stürme sollten neun Tage lang ohne Unterlass wüten.
Am Nachmittag des ersten Tages äugte das Freie Volk überall argwöhnisch zum sich verdüsternden Himmel und beeilte sich, Schutz zu suchen. In Gron bot diesen Schutz die schwarze Festung selbst, wo sich die Legion einrichtete und ihre Verwundeten pflegte. Und einer dieser Verwundeten war ein erblindeter Wurrling. Fürst Gildor, der in medizinischen Dingen bewandert war, hatte Tucks Augen untersucht, doch der Elf konnte dem Heiler kein Mittel vorschlagen, das die Sehkraft des Bokkers wiederhergestellt hätte. Allerdings sagte Gildor, dass Dara Rael in Arden vielleicht helfen könnte, denn niemand sei kundiger im Heilen als sie. Gildor mischte einen Schlaftrunk, den Tuck später zu sich nehmen sollte, denn dem Bokker war anzusehen, dass er beträchtliche Schmerzen litt, und er würde den Trank brauchen, um Ruhe zu finden.
In dieser Nacht kam ein Fieber über Tuck, und er hatte abwechselnd Schüttelfrost und Hitzeschübe. Sein versengtes Gesicht und die Hände fühlten sich stets heiß an, und sein Körper war manchmal schweißgebadet und dann wieder trocken wie Pergament. Rund um die Uhr saßen Wurrlinge an seinem Bett, und sie tupften ihm Gesicht und Hände mit der Kräuterlösung ab.
Aber Tuck wachte nicht auf, obwohl seine Augen gelegentlich weit offen standen, wenn er im Fiebertraum aufschreckte, Warnungen und Namen wild durcheinanderschrie und flehte, dass man irgendwelchen Personen in Bedrängnis helfen möge, die nur er sah - Phantome aus vergangenen Tagen: Hob, Tarpi, Aurion, Danner. Und draußen tobte der gewaltige Sturm um die Wälle und Türme und peitschte Schnee und Eis durch die Festung.
Am folgenden Tag bildeten sich mit Flüssigkeit gefüllte Blasen auf Tucks Gesicht und Händen. Manchmal, wenn er halb wach zu sein schien, versuchten ihm die Wurrlinge, die ihn pflegten, Essen einzuflößen. Aber Tuck erbrach sogar Wasser und konnte nichts bei sich behalten.
Und immer noch wütete der Sturm über das öde Land und fuhr mit seinen Klauenfingern in die Zitadelle.
Am vierten Tag ging Tucks Fieber zurück, und er sprach mit einer Klarheit, die er zuletzt hatte vermissen lassen.
Dink war gerade bei ihm und strich ihm die Kräuterlösung aufs Gesicht, als der bettlägerige Wurrling ganz deutlich flüsterte: »Wer ist da?« Denn Tuck schaute Dink zwar direkt an, aber er sah ihn nicht.
»Ich bin es, Tuck, Dink Weller«, sagte Dink und strich etwas von der Lösung auf Tucks rechte Hand.
»Hallo, Dink.« Tucks Stimme war rau. »Hast du wohl etwas zu trinken für mich? Meine Kehle fühlt sich an, als wäre sämtlicher heißer Sand von Karoo hindurchgerieselt. « Rasch goss Dink Wasser in eine Tasse, half Tuck, sich aufzusetzen, und hielt ihm das Gefäß an die Lippen. Tuck trank gierig.
»Vorsichtig, Tuck«, mahnte Dink. »Der Heiler sagte, du sollst es langsam angehen lassen: immer nur kleine Schlucke.«
Tuck trank diese Tasse und eine zweite in kleinen Schlucken aus, dann sank er aufs Bett zurück. »Merrili… Wo ist Merrili?«
»Ach, sie schläft, Tuck«, erklärte Dink. »Tag und Nacht saß sie hier bei dir, bis sie selbst ganz erschöpft war. Ein paar von uns haben sie schließlich in ihr eigenes Bett geschleift, und sie war weg, kaum dass sie auf dem Kissen lag.«
Ein Lächeln spielte um Tucks aufgesprungene Lippen, er schloss die Augen und sagte nichts weiter. Dink schlüpfte aus dem Zimmer und lief, um Merrili zu holen, aber als die beiden zurückkamen, war Tuck in einen tiefen, natürlichen Schlaf gefallen. Dink bestand darauf, dass Merrili wieder zu Bett ging, und sie gehorchte widerspruchslos, denn sie wusste nun, dass ihr Bokker wieder gesund werden würde. Ihr war leicht ums Herz, als sie zurück unter die Decken kroch, während draußen der Wind heulte und stöhnte und Schnee über das weite Land trieb.
Am nächsten Morgen erhob sich Tuck, unterstützt von Bert und Arch, schwankend aus dem Bett, um sich zu erleichtern; er lehnte es ab, auch nur einen Moment länger versorgt zu werden:
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