Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
kamen Alexander und Markus – und jetzt ist es eben Walter. Auch er wird es in Sonjas schöne Wohnung schaffen und wieder aus ihr hinaus. Danach wird sie auf seinen Anruf warten, eine ganze Woche lang, ein bisschen weinen und es schließlich aufs Neue probieren.
Das World Wide Web ist ein riesiges Kukuruzfeld, in dem sich viele Hasen und andere Nager tummeln, Hamster zum Beispiel. Walter hamstert auch, ganz aufgebläht sind seine Backen von den vielen Geschichten, die er bei der nächsten Firmenfeier erzählen wird. Die Firma feiert die Feste, wie sie fallen, und Walter ist immer vorne dabei.
Sonja hat Walter vorhin von der Firma abgeholt, die McDonald’s-Filiale liegt schräg gegenüber. In zwei Wochen wird eine andere Walter abholen, und die Kollegen werden ihm auf die Schulter klopfen und mit neidischem Blick fragen, wie er es anstellt, dass ihm die Frauen in Scharen nachrennen, worauf Walter geheimnisvoll lächeln wird.
Das kann Jakob freilich nicht wissen. Sonja kann es auch nicht wissen, aber ahnen könnte sie es. Vor allem könnte sie endlich damit aufhören, jedes Mal vor dem Handy zu sitzen und auf einen Anruf zu warten. Aber so ein eingebildeter Liebeskummer lenkt eben vom eigentlichen, wirklichen Kummer des Verlassenwordenseins ab, nicht umsonst drückt man einem Kind eine Babykatze in den Arm, wenn die alte vom Auto überfahren worden ist. Also scrollt sich Sonja durchs Internet, das zumindest einen Vorteil hat: Hier muss man sich nicht wie ein Auktionstier auf den Fleischmarkt stellen, vor dem Laptop reicht der Jogginganzug. Sonja hilft der Phantasie der Männer auf die Sprünge, indem sie ein Porträt von sich hochlädt. Herauszufinden, was sich unterhalb ihres Gesichts verbirgt, ist Aufgabe des anderen, hängt ganz von der jeweiligen Vorstellungskraft ab. Sonja klickt sich durch die Profile und Zukunftsvorstellungen der männlichen Singles, selektiert und dividiert, bis am Schluss noch immer eine Handvoll übrig bleibt. Walter ist einer von ihnen, denn Walters Zukunftsvorstellung heißt Familie. Dass diese Vision in Walters ferner Zukunft liegt, kann Sonja nicht wissen, immerhin ist Walter zweiundvierzig und somit nicht mehr der Jüngste, wenn auch jung geblieben und sportlich. Walter hat einen Titel, ist ganz und gar nicht Skilehrer, sondern Informatiker und Angestellter einer großen Computerfirma. Dass er auch noch gerne Papa sein möchte, ist für Sonja Grund genug, ihn kennenzulernen. Also wagt sie sich vor, indem sie von seinem Big Mäc abbeißt.
Jakob steht zu dieser Zeit schon beim Imbissstand ums Eck. Die Pizzaschnitte ist trocken, der Schinken hat die Konsistenz von altem Leder und schmeckt auch so. Jakob beißt dreimal ab, dann wirft er den Rest in den nächsten Mistkübel und geht zurück zum Labor, wo er sich auf den alten Holzsessel setzt, um sich die Erkenntnisse Horst Holsteins einzuverleiben. Holsteins Arbeit ist wie sein Name: eingebildet, künstlich und ohne relevanten Kern. Wie die Photonen durch den Kristall, zischen Holsteins Ausführungen durch Jakobs Kopf, vorne hinein, links und rechts wieder hinaus. Aber so ist das, wenn man sich für eine wissenschaftliche Karriere entscheidet, sieben Zehntel der Zeit verbringt man damit, das zu lesen, was andere erforscht haben. In Holsteins Fall ist es ein großes Nichts, ein Nichts, das Jakob obendrein nicht neu ist.
Er lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Labortisch. Dafür muss er den kleinen Kristall ein wenig zur Seite rücken. Er sieht auf die Zeitanzeige am Computer. Ob Marie gerade Hausübungen verbessert? Oder die nächste Französischstunde vorbereitet? Vielleicht auch den Philosophietest für die Sieben B, von dem sie ihm gestern erzählt hat. »Die werden keine Ahnung haben, die sind ja nie da!«, hat sie gewettert. »Freitag sechste Stunde Philosophie, wer sich den Stundenplan ausgedacht hat, der gehört ja verprügelt!«
Er mag es, wenn sie sich aufregt. Sie bekommt dann diese roten Flecken unter ihren Sommersprossen. Ihr Grübchen tanzt auf und ab, und ihre Haare fangen an, nach allen Richtungen abzustehen, als würden sie sich mitärgern, und ihre Hände schwirren wie die Obstfliegen durch die Luft. Das muss am sizilianischen Blut liegen, denkt Jakob. Manchmal nimmt er ihre Hände in seine, fängt sie mitten im Flug auf und zieht sie an sich heran, zuerst nur die Hände, dann die ganze Marie. »Sind doch nur dumme Schüler«, sagt er dann, »kein Grund, sich zu ärgern.« Und während sie noch schmollt,
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