Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gerattert. Russeng’sindl, hat sie geschimpft. Die glauben auch, die können alles mit uns machen!«
Hedi steht auf und öffnet das Fenster. Wie auf Kommando blinzelt die Sonne durch die graue Wolkenschicht, spaziert dann durchs Zimmer und zeichnet Muster auf das Parkett.
»Ich hab der Inge erzählt, dass der Ilja kein Vergewaltiger war. Dass er meine große Liebe war und immer sein wird. Ihren Blick hättest du sehen sollen! Ich glaub, am Anfang hat sie gar nicht richtig verstanden. Für sie waren alle Russen Lustmolche, man hat ja oft genug von Vergewaltigungen gehört. Aber dann ist ihr ein Licht aufgegangen. Du hast dich in einen Iwan verschaut!, hat sie gerufen. Und dann hab ich ihr alles von Ilja erzählen müssen. Von unseren heimlichen Treffen, von seiner Musik, einfach alles. Und Inge hat sich fürchterlich aufgeregt. Wenn dich einer wirklich liebt, hat sie gesagt, dann findet er eine Lösung, dann geht er nicht einfach zurück nach Russland und lässt dich mit dem Kind sitzen!«
Hedi setzt sich wieder in den Schaukelstuhl. Beginnt, am Saum ihres Rockes zu zupfen. Schiebt das lilafarbene Seidenfutter unter den blaugrauen Stoff und zieht die Strumpfhose am Knie hoch.
Es sind diese kleinen Bewegungen, die Gery so an ihr mag. Die er, wenn er könnte, für immer speichern würde. Diese kleinen, ihr völlig unbewussten Bewegungen. Er würde die gespeicherte Hedi auf sein Nachtkästchen stellen, und dort würde sie bis in alle Ewigkeit in ihrem Schaukelstuhl sitzen und ihm Geschichten einflüstern. Und er würde sich nie wieder allein fühlen. Würde nie wieder vor dem Einschlafen das Gefühl haben, dass sowieso alles umsonst ist – das Niederlegen, das Aufstehen, die täglichen Essensauslieferungen. Die Filme, die nur in seinem Kopf existieren. Hedi würde ihn anlächeln, und das Gefühl von Sinnlosigkeit würde verschwinden. Oder vielleicht würde es auch nicht verschwinden, aber er würde mit ihr darüber lachen können.
»Ich hab dem Ilja nie von unserem Kind erzählt«, sagt Hedi in die Stille hinein. »Als ich draufgekommen bin, dass ich schwanger bin, war er schon seit über einem Monat weg. Am Anfang hab ich ihm noch schreiben wollen, ich hatte ja seine Adresse. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Er wäre in Oberkreuzstetten nicht glücklich geworden, und was hätte ich schon in Leningrad gemacht?«
Im Eck tickt eine alte Pendeluhr. Gery zählt ihr Tick-Tack. Wieso fällt ihm die Uhr erst heute auf? Die Schnitzereien in dem dunklen Holz, das schwere Pendel, die verschnörkelten Ziffern.
»Die ist von meinen Eltern«, folgt Hedi seinem Blick. »Die Uhr hab ich als Einziges mitgenommen, nachdem sie kurz hintereinander gestorben sind. Alles andere haben wir entsorgt oder auf dem Flohmarkt verkauft. Ein paar Dinge hat sich auch die alte Aigner vom Nachbarhof genommen, und manches hat meine Cousine behalten, als sie mit ihrer Familie eingezogen ist. Bis auf den Unimog war ja nichts da, was man noch hat brauchen können. Die alte Weinpresse steht wahrscheinlich heute noch auf dem Hof herum.«
Gery stellt sich Hedi Brunner als junges Mädchen vor. In seiner Vorstellung trägt sie eine weiße Bluse und einen blauen Faltenrock, um den Kopf windet sich ein geflochtener blonder Kranz.
»Das mit dem Kind bringst du besser nicht in deinem Film«, sagt sie. »Ich hab nie jemandem davon erzählt, nicht einmal meinen Töchtern. Inge und meine Eltern waren die Einzigen, die von Wassily gewusst haben.«
»Du hast deinen Töchtern nie gesagt, dass sie einen Bruder haben?«,
»Mein Gott. Was hätte das schon gebracht? Hätte ich ihnen sagen sollen: Euer Vater war nicht der, den ich geliebt hab? Und wozu hätte ich ihnen von Wassily erzählen sollen? Sie hätten ihn ja doch nie kennengelernt.« Hedi lässt den Saum des Rockes zwischen ihren Fingern entlanggleiten.
»Du hast ihn nie wiedergesehen? Nie herausgefunden, was er macht? Wie er lebt?«
Hedi steht auf und stellt die leeren Kaffeetassen aufs Tablett.
»Der Wassily hat eine gute Familie bekommen. Die Steins haben ihn geliebt und Geld hatten sie auch. Wer weiß, ob sie ihm überhaupt erzählt haben, dass er nicht ihr eigener Sohn ist. Da hätte ich doch nicht so einfach auftauchen können.« Sie geht in die Küche und stellt die Tassen in die Abwasch.
»Aber gedacht«, sagt sie, als Gery ihr in die Küche folgt und nach dem Geschirrtuch greift, »habe ich jeden einzelnen Tag an ihn. Ganze einundsechzig Jahre lang.«
14 Sie haben es ihm
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