Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
wirklich nie gesagt. Wann auch? Als David Stein noch in Wien lebte, war der Junge zu klein, und als David schon lange in Israel war, hätte es noch weniger Sinn gehabt, zu sagen: »Du bist gar nicht mein Kind.« Wie wenn es nicht schon gereicht hätte, dass der Junge den Adoptivvater verloren hatte.
Drei Jahre, nachdem Agathe Stein mit dem kleinen Bündel vom Stadtpark nach Hause gekommen war, hatte sich ihr Mann in den Kopf gesetzt, nach Israel zu gehen. Der kleine Wassily, nun Willi, sauste durchs Wohnzimmer und brabbelte vor sich hin, während Agathe am Fenster stand und auf die Porzellangasse hinunterschaute, die Hände auf die Oberarme gelegt, die auf einmal ganz kalt geworden waren. Das Glück, in dem sie sich seit drei Jahren sicher gewähnt hatte, war auf einmal in der Mitte entzweigesprungen wie ein alter Teller. »Tel Aviv«, sagte sie nur und achtete nicht auf Willi, der zum Stehen gekommen war und sie aus großen Augen ansah.
Drei Monate später nahm das Ehepaar Abschied voneinander. David winkte aus dem Zugfenster und Agathe hielt den kleinen Buben hoch, in der Hoffnung, ihr Mann würde im letzten Moment aus dem Abteil springen, ihnen in die Arme. Der Zug fuhr ab, ohne auf die Mutter mit dem kleinen Buben auf dem Arm Rücksicht zu nehmen. Agathe setzte Willi ab und ging mit ihm die Prinz-Eugen-Straße hinunter. Vorbei am Palais Schwarzenberg, hinunter zum Ring, wo sie den weinenden Buben aufhob. Die Herrengasse entlang, am Café Central vorbei, über die Liechtensteinstraße bis zur Porzellangasse. Zu Hause angekommen, kochte sie Grießbrei und legte Willi ins Bett. Blieb dann die ganze Nacht über am Küchentisch sitzen, ohne das Licht anzuknipsen. Als es dämmerte, schlüpfte sie in einen leichten Frühlingsmantel, hob das Kind aus seinem Bett und trug es hinüber in die Lichtentaler Gasse, wo ihre Eltern wohnten.
Agnes Sass kümmerte sich um ihre Tochter und das Enkelkind, und Ferdinand Sass verfluchte den Tag, an dem er Agathe erlaubt hatte, David Stein zu heiraten. »Die Nazis haben schon recht gehabt«, schimpfte er, und Frau Sass zischte: »Sei still, jetzt ist es sowieso zu spät.«
Zwei ganze Jahre wartete Agathe darauf, dass David zurückkehren würde. In jedem seiner Briefe beteuerte er seine Liebe zu ihr und ihrem Sohn und schrieb von einem Land, das sie mitgestalten könnten, anders als in Österreich, wo sich seiner Meinung nach nichts geändert habe. Inständig bat er, Agathe möge doch mit dem kleinen Willi nachkommen.
Schließlich gaben beide das Warten auf. Vielleicht hatte Agathe in manchen Augenblicken sogar in Erwägung gezogen, nach Tel Aviv zu fahren, zumindest für ein paar Wochen, doch die Eltern wussten, wie sie mit ihrer Tochter zu reden hatten. »Dort seid ihr nicht sicher, das liest man doch jeden Tag in der Zeitung. In Israel herrscht Krieg. Und was willst du unter lauter Juden? Dort bist du eine Schickse, mehr nicht«, warnte der Vater, und die Mutter sagte: »Wenn du schon nicht an dich denkst, so denk wenigstens an den Jungen.« So blieb Agathe und zog wieder in die Wohnung in der Porzellangasse.
Als Ferdinand Sass die Geschäftsleitung seiner Drogerie Oswald Blasbichler übertrug und bemerkte, wie dieser seine Tochter ansah, hoffte er, dass er derjenige sein würde, der sie wieder zur Vernunft bringen würde. Von da an verkehrte Oswald regelmäßig im Hause Sass, wurde zum Essen eingeladen und begleitete die Familie auf ihren Ausflügen in den Wienerwald und zum Heurigen
Weitere zwei Jahre später, kurz nach Willis achtem Geburtstag, als Agathe schon lange nichts mehr von ihrem mittlerweile geschiedenen Ehemann gehört hatte, willigte sie in die Hochzeit ein. Oswald war gut zu dem kleinen Willi, und Agathe war ihm dankbar dafür. Sie beruhigte ihre geschundenen Nerven mit Valium, und hie und da sah man sie sogar wieder lachen.
Als ihr Bauch anschwoll, war Willi bereits zwölf. Vor vierzehn Jahren hatte der Arzt Agathe versichert, keine Kinder bekommen zu können, und jetzt, mit zweiundvierzig, war sie auf einmal schwanger.
Die kleine Marianne war Oskar Blasbichlers Goldschatz. Während Willibald in den Mauern des Internats, in dem schon sein Stiefvater zum Mann herangereift war, die Nächte durchweinte, schob die kleine Marianne ihren Puppenwagen auf und ab, umrundete den Sessel der Mutter und wartete aufs Wochenende. Jeden Samstag kam der Bruder nach Hause. Dann durfte Marianne ihren Puppenwagen neben ihm herschieben, während Willi die karierte Decke und den
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