Mitten in Amerika
schmolzen. Bevor die Lava auf seinem Teller soweit ausgekühlt war, daß er sie zu essen wagte, brachte die Kellnerin der Familie nebenan ein Spezialdessert, Fruchteis mit fünf verschiedenenSaucen und Unmengen Schlagsahneersatz. Statt einer Kirsche krönte jeden Becher ein kleines Kreuz. Die blassen Kinder konnten von dieser Kreation nicht viel essen.
»Dann gebt es her«, sagte die Mutter und fuhr mit dem Löffel hinein. »Wir haben es schließlich bezahlt.«
Unvermittelt dachte er an Fever, Orlandos Freundin, und malte sich aus, wie die Baptisten zurückschrecken würden, wenn sie jetzt in ihren Doc Martens mit den offenen Schnürsenkeln hereinkäme.
Eines Tages hatte Orlando Bob angerufen und gesagt, er solle zur Ecke Arapaho und 16. Straße kommen.
»Da hängen sie alle rum. Abends fahren die Rollstuhlfahrer da ihre Rennen. Tagsüber hängt man rum. Lauter coole Kids. Fever kommt auch.«
»Wer ist Fever?«
»Meine Freundin. Oder so ähnlich«, sagte Orlando, und das setzte Bob in Erstaunen, denn er hatte den dicken Jungen für einen Einzelgänger gehalten, einen Sonderling, der dazu bestimmt war, eines Tages den klassischen Berserkeranfall zu bekommen, Gäste in einem Fast-food-Laden zu erschießen oder einen Steuereintreiber als Geisel zu nehmen.
»Wie kommt sie zu dem Namen Fever? Haben ihre Eltern sie so genannt?«
»Die doch nicht! Shirley hatten die sich ausgesucht. Aber sie hat sich die Zunge und die Lippe mit diesen kleinen Steckern piercen lassen und eine Infektion gekriegt. Die Ohren auch, aber die haben sich nicht entzündet. Sie hatte Fieber und ist dauernd rumgegangen und hat zu allen Leuten gesagt, sie sollen mit der Hand an ihrer Stirn fühlen, ob sie Fieber hat, und so ist sie an den Namen gekommen. Jedenfalls könnten wir ein bißchen rumhängen und später ins Kino gehen«, sagte Orlando, »es gibt ein Triple-Feature für fünf Dollar – Geistesgestört … Bekenntnisse eines Nekrophilen und Ich trinke dein Blut . Der dritte Film ist über irgendein Atommonster, aber wenn er langweilig ist, können wir ja gehen.«
Als er an die Straßenecke kam, sah er Orlando schon von weitem. Der böse dicke Junge trug einen roten Cowboyhut und einen Flugzeugmechaniker-Overall, auf dessen Brust UNITEd AIRlINES gestickt war. Er befand sich in einer Gruppe von zehn oder zwölf Halbwüchsigen. Mit ihren stacheligen, geschorenen, gefärbten Köpfen, ihren aufgeklebten Tattoos, ihren gepiercten Lippen, Nasenflügeln, Augenbrauen und Zungen, ihren bauschigen Hosenbeinen und ihrem Metallwarensortiment – dünnen Goldkettchen und Gürteln aus schweren Autoabschleppketten – wirkten sie wie Wesen aus einem Sciencefiction-Film, nicht wie Menschen. Fasziniert betrachtete Bob einen rachitischen Knaben, dessen schwarzer Lippenstift mit dem ingwergelben Schnurrbart und den vergoldeten Ohren sehr gut harmonierte.
»Orlando«, rief er, und der dicke Junge drehte sich auf dem Absatz um, winkte ihm gelassen zu, zog ein Mädchen aus dem Pulk und kam mit ihr zu Bob.
»Das ist Fever.«
Er mußte zugeben, daß Fever zu Orlando paßte. Sie war ziemlich dick; ihr geschmeidiges Fleisch sah fest und elastisch aus. Ihr Kopf war hinten und an den Seiten rasiert, und das lange Deckhaar war müllabfuhrorangerot und telefonbuchgelb gefärbt. Ihren Mund bedeckten abwechselnde vertikale Linien violetten und blauen Lippenstifts, und von ihrer Unterlippe hing ein kleiner Ring. An ihren Ohren glitzerten Dutzende von Niobiumringen. Sie trug weiße Männercordhosen. Auf die Handrücken waren mit Tinte Totenschädel gemalt. Jeder Finger wies mehrere Ringe auf sowie abgeblätterten grünen Nagellack, und ihre Ellbogen waren grau und schuppig. Sie trug ein violettes Satinherrenjackett, auf dessen Rücken W AHNSINNSTRUPPE gestickt war. Als sie sich umdrehte, sah Bob hinten in ihrer Hose ein faustgroßes Loch, das die fette Rundungeiner pfirsichfarbenen Hinterbacke enthüllte. Als sie sich auf die Betonumfriedung setzte, wurden schorfige bloße Knöchel mit Schmutzringen sichtbar.
Sie sah Bob Dollar an und sagte: »Hallo, Scheißer, wie geht’s?« Als sie lächelte, konnte er das Kügelchen an ihrer Zunge sehen.
6. Sheriff Hugh Dough
S heriff Hugh Dough war vierzig Jahre alt, ein kleiner Mann von einem Meter fünfundsechzig und sechzig Kilo Gewicht, voller Ticks und Macken, aber trotz alledem ein tierisch gefürchteter Sheriff. Er hatte eine scharfe Aztekennase, flaumiges schwarzes Haar und schwarze Knopfaugen wie aus der
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