Mitten in der Nacht
Augen zu öffnen, aber da alles verschwommen war, schloss er sie einfach wieder.
»Nein, das darfst du nicht.« Mit zittrigen Händen klopfte sie ihm leicht auf die Wangen. Gleich nachdem ihm alle Farbe aus dem Gesicht gewichen und von seinen Augäpfeln nur noch das Weiße zu sehen gewesen war, hatte es ihn umgehauen wie einen von der Axt gefällten Baum. »Mach die Augen auf.«
»Was ist denn passiert, um Himmels willen?«
»Du bist ohnmächtig geworden.«
Jetzt schlug er die Augen auf und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Verlegenheit rang mit einem leichten Schwindelgefühl um die Oberhand. »Entschuldige bitte, Männer werden nicht ohnmächtig. Gelegentlich kann es vorkommen, dass wir zusammenbrechen oder das Bewusstsein verlieren. Aber ohnmächtig werden wir nicht.«
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er hätte sich seinen Kopf aufschlagen können, ging es ihr durch den Kopf, aber er war wieder zu sich gekommen und hatte seine fünf Sinne noch beieinander. »Verzeihung, du bist zusammengebrochen. Auf der Stelle. Und bist so hart aufgeschlagen, dass du froh sein kannst, deinen Kopf noch dran zu haben.« Sie beugte sich wieder zu ihm hinab und streifte mit ihren Lippen seine blutende Schramme auf der Stirn. »Du wirst einen Bluterguss bekommen, bébé. Ich konnte dich nicht auffangen. Vermutlich hättest du uns dann beide zu Boden gerissen.«
Es war ihr gelungen, ihn umzudrehen, und jetzt streichelten ihre Finger seine blassen Wangen. »Brichst du oft zusammen?«
»Für gewöhnlich muss ich mich erst bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, und das habe ich seit Collegezeiten nicht mehr getan. Weißt du, auf die Gefahr hin, mich binnen weniger Minuten gleich zwei Mal zu blamieren, muss ich jetzt doch unbedingt sofort raus aus diesem Zimmer.«
»Ist gut. Machen wir. Kannst du aufstehen? Ich glaube kaum, dass ich dich hochziehen kann, cher. Du bist ein ziemlich großer Junge.«
»Ja.« Er kam auf die Knie und versuchte Atem zu holen, bekam aber keine Luft. Es war, als hätte ein Sattelschlepper auf seiner Brust geparkt, und holpernd versuchte sein Herz seinen Rhythmus wiederzufinden. Er kam taumelnd auf die Beine und stolperte.
Lena schlang einen Arm um seine Taille und versuchte ihm so viel seines Gewichts abzunehmen, wie ihr möglich war. »Ein Schritt, zwei Schritte. Wir gehen jetzt sofort nach unten, damit du dich hinlegen kannst.«
»Ist schon gut. Ich werd schon wieder.« Ihm sirrten die Ohren. Sobald er aus dem Zimmer trat, steuerte er auf die Treppe zu, sank dort nieder und nahm den Kopf zwischen die Knie. »Jesus.«
»Ist ja gut, Liebster.« Sie streichelte ihm das Haar.
»Mach bitte diese Tür zu. Mach sie einfach zu.«
Sie eilte zurück und ließ sie ins Schloss fallen. »Wenn du wieder zu Atem gekommen bist, bringen wir dich runter und ins Bett.«
»Das von dir zu hören, habe ich mir gewünscht, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.«
Die Verkrampfung in ihrem Bauch ließ ein wenig nach. »Offenbar kommst du wieder zu dir?«
»Es geht schon besser.« Er bekam wieder Luft und der Schwindel ließ nach. »Jetzt muss ich nur noch jemanden verprügeln oder ein kleines Säugetier erlegen, um meine Männlichkeit wiederherzustellen.«
»Zeig mal dein Gesicht.« Sie drückte seinen Kopf nach hinten und untersuchte ihn. »Noch ein bisschen blass, aber du hast schon wieder Farbe bekommen. Ich wette, dass Großmama Recht hat. Du isst nicht. Was hast du heute gegessen, cher?«
»Weizenkeime. Das Frühstück der Champions.« Er schaffte ein mattes Lächeln. »Scheint nicht funktioniert zu haben.«
»Ich werde dir ein Sandwich zurechtmachen.«
»Wirklich?« Das bloße Vergnügen dieser Vorstellung belebte ihn. »Du wirst für mich kochen?«
»Ein Sandwich zu machen ist nicht kochen.«
»In meiner Welt aber schon. Lena, dieses Zimmer...«
»Wir reden darüber – wenn du etwas im Magen hast.«
Die Vorräte waren dürftig. Nach einem Blick in den Kühlschrank aus zweiter Hand, der zurzeit das Esszimmer zierte, bedachte Lena Declan mit einem langen Blick voller Mitleid. »Wie alt bist du? Zwölf?«
»Ich bin ein Junge«, erwiderte er achselzuckend. »Was die Wahl der Lebensmittel angeht, werden wir Jungs nie erwachsen. Ich habe Erdnussbutter zu diesem Gelee.« Er sah sich im Zimmer um. »Irgendwo.«
Er hatte auch eine einsame Scheibe Schinken, zwei Eier, ein Stück anämisch aussehenden Käse und ein halbe Tüte fertiger Salatmischung. »Sieht so aus, als würde ich doch noch
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