Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Titel: Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
Vom Netzwerk:
Täter sich, nachdem sie Koller zusammengeschlagen hatten, noch mindestens drei Stunden in der Halle aufgehalten haben? Eine Möglichkeit wäre, dass Koller nicht verraten hatte, wo sich die Beute befand. Aber das Büro war nicht durchsucht worden. Und Luca Puntino? Wenn Lenker die Wahrheit sagte, hatte Koller „Scheiße, der hat mich erkannt!“ ausgerufen, bevor er ihn angefahren hatte. Das wäre doch völlig unsinnig, wenn der Italiener mit von der Partie gewesen wäre.
    Er ging hinaus auf den Flur. Es war kurz vor Mitternacht. Koller war, wenn man sich seine Akte ansah, kein besonders sympathischer Zeitgenosse gewesen. Vielleicht hatte er noch ganz andere Feinde gehabt? Er würde noch einmal mit Martina Koller sprechen!

31
    Ein kaum wahrnehmbares Wanken in den Bewegungen und Tönen um sie herum ist geblieben, wie unter einem dünnen Wasserspiegel. Morgen für Morgen steigen die Tage auf. Aquarelle eines ungeübten Malers. Die viel zu nassen Farben verlaufen zu einem erst blassen, dann immer dunkler werdenden Grau, bis sich abends an der unteren Linie des Papiers das Schwarz der Nacht gesammelt hat. Auch die Geräusche, die Stimmen ihrer Kinder und die Forderungen ihres Mannes kommen aus dieser fernen, fadenscheinigen Welt.
    Sie steht auf, deckt den Frühstückstisch, schickt Sven und Julia pünktlich in Kindergarten und Schule. Sie lächelt ihnen zu, packt Butterbrotdosen in Kindergartentasche und Schulranzen, streicht ihnen zum Abschied über den Kopf. Tag für Tag. Andreas arbeitet in einer Autowerkstatt. Wenn er die Nacht zu Hause verbringt, trinkt er morgens wortlos einen Kaffee und verlässt das Haus. Dann geht sie hinüber zu Daniel, wechselt seine Windel, zieht ihn an, füttert ihn. Ein bis zwei Stunden tapst er durch die Wohnung, bevor sie ihn zurück in sein Bett setzt, Bilderbücher und Stofftiere dazulegt. Aufräumen, einkaufen, kochen, Julia vom Kindergarten abholen. Mittagessen, Daniel füttern und saubermachen, spülen, Svens Hausaufgaben. Ab siebzehn Uhr die unruhige Frage, ob ER nach Hause kommen wird. Ob er nüchtern sein wird. Immer wieder blickt sie aus dem Küchenfenster hinaus in den Hof. Auch Sven und Julia lernen diesen suchenden Blick zum Torbogen, diesen kurzen Ausruf: „Er kommt!“ Dann zerdrückt sie eilig eine der Tabletten, mischt sie unter einen Löffel Joghurt und geht zu Daniel.
    Ihr Bauch wächst.
    Manchmal ist das Essen ein billiger Fraß. Manchmal ist nicht genug Bier im Haus. Manchmal ist sie zu blöd, vernünftig hauszuhalten. Dann schlägt er sie. Manchmal schreien die Kinder. Manchmal rufen die Nachbarn aus dem Fenster: „Ruhe da, sonst hol ich die Polizei!“ Einige Male tun sie es. Dann geht sie an die Tür und sagt, dass alles in Ordnung ist.
    Die Beamten bieten an, sie ins Frauenhaus zu bringen oder ihn mitzunehmen, aber das lehnt sie ab. Das hatte sie doch alles schon versucht. Dort würde sie nicht ewig bleiben können.
    Sven und Julia sperrt er ins Kinderzimmer, wenn er seine Ruhe haben will. Meistens gehen sie von ganz allein, sobald sie ihn kommen hören.
    Sie ist im siebten Monat, als Daniel zum ersten Mal selbstständig aus dem Gitterbett klettert. Sie übt mit Sven ein Diktat, als er plötzlich in der Küchentür steht. Sie trägt ihn zurück in sein Zimmer, schimpft, dass er das nicht dürfe, dass er das nie wieder machen soll.
    Sie weiß, dass er es nicht versteht, weiß, dass er es jetzt kann und wieder tun wird. Sie schließt das Zimmer ab und geht zurück in die Küche. Es dauert nur wenige Minuten, da hört sie, dass er gegen die Tür schlägt. Einmal, zweimal, dreimal … Sven sieht sie ängstlich an, sagt: „Gleich kommt Papa nach Hause.“ Minutenlang starrt sie wortlos vor sich hin. Dann geht sie ins Bad, nimmt zwei Mullbinden aus dem Spiegelschrank, setzt sich auf den Badewannenrand und knetet die beiden Päckchen in den Händen. Die Cellophanverpackung knistert wie ein kleines Feuer. Vier Meter, liest sie, als sie die kleinen roten Fäden greift und die Päckchen öffnet. Nur vorsichtshalber! Sie schließt die Tür auf und hebt Daniel zurück ins Bett. Die Mullbinden sind weich, nachgiebig. Es wird ihm nicht wehtun. Sie rollt sie aus, nimmt sie doppelt, knotet sie rechts und links an die Gitterstäbe. Sie zieht Daniel Kniestrümpfe an und bindet die Mullenden um seine Fußgelenke. Nicht fest. Nur so, dass er sie nicht abstreifen kann. Sie streichelt sein Gesicht. „Nur heute“, flüstert sie ihm zu. „Nur heute.“

32
    Der Montagmorgen trug

Weitere Kostenlose Bücher