Mitternachtsfalken: Roman
ungefähr fünf und dreißig Kilometer entfernten Küste von Bornholm abzusetzen. Hermia hatte sich von Hoare, der beim besten Willen nicht als Däne durchgegangen wäre, verabschiedet, und war an Bord geklettert. Digby hatte vor, nach London zu fliegen und Churchill Bericht zu erstatten, wollte aber unmittelbar danach zurückkommen und am Anleger von Kalvsby auf sie warten. Vorausgesetzt, sie kam zurück.
Im Morgengrauen des vorausgegangenen Tages hatte der Fischer Hermia mit ihrem Fahrrad an einem einsamen Strand abgesetzt und ihr versprochen, sie vier Tage später an der gleichen Stelle wieder abzuholen. Damit er auch bestimmt Wort hielt, hatte Hermia ihm für die Rückfahrt den doppelten Preis versprochen.
Sie war dann zur Festungsruine Hammershus geradelt, dem mit Arne vereinbarten Treffpunkt, und hatte den ganzen Tag dort auf ihn gewartet – vergeblich.
Sie redete sich ein, dass dies eigentlich kein Wunder war: Arne hatte am Vortag noch arbeiten müssen, weshalb es nahe lag, dass er die Fähre am Freitagabend nicht mehr erreicht und dann das Schiff am Samstagmorgen genommen hatte. Dies wiederum hieß, dass er vermutlich zu spät auf Bornholm gelandet war, um es noch bei Tageslicht bis Hammershus zu schaffen. Also hatte er irgendwo übernachten müssen und würde wohl am nächsten Morgen in aller Frühe zum Treffpunkt kommen.
An diese Version glaubte Hermia in ihren optimistischen Momenten. In ihrem Hinterkopf aber hatte sich der hartnäckige Gedanke festgesetzt, dass Arne vielleicht verhaftet worden war. Aus welchem Grund man das getan haben sollte, zumal er ja noch gar kein Verbrechen begangen hatte, war eine Frage, die sie weder beantworten konnte noch wollte, beschworen solche Gedanken doch nur weitere fantasievolle Szenarien herauf: Arne, der sich einem verräterischen Freund anvertraute; Arne, der alles, was er erlebte, in einem Tagebuch festhielt; Arne, der einem Priester gebeichtet hatte.
Erst gegen Abend hatte sie die Hoffnung auf Arnes Erscheinen aufgegeben und war ins nächste Dorf geradelt. Im Sommer boten viele Inselbewohner Ferienzimmer mit Frühstück für Touristen an, weshalb sie problemlos eine Bleibe fand. Ausgehungert und voller Angst fiel sie ins Bett und wurde prompt von Albträumen heimgesucht.
Beim Anziehen erinnerte sie sich an den Urlaub, den sie mit Arne auf Bornholm verbracht hatte. Sie hatten sich in ihrem Hotel als Herr und Frau Olufsen eingetragen. Das war die Zeit gewesen, in der sie sich ihm am nächsten gefühlt hatte. Arne war ein Spieler und wettete gern mit ihr um sexuelle Gunstbezeigungen: »Wenn das rote Boot zuerst in den Hafen einläuft, musst du morgen den ganzen Tag ohne
Schlüpfer herumlaufen, und wenn das blaue gewinnt, darfst du heute Nacht oben liegen.« Du kannst alles von mir haben, was du willst, mein Liebster, dachte Hermia – Hauptsache, du erscheinst heute.
Bevor sie wieder nach Hammershus radelte, wollte sie frühstücken. Möglicherweise musste sie wieder den ganzen Tag warten, und da wollte sie nicht unbedingt irgendwann vor Hunger in Ohnmacht fallen. Sie zog sich eines der billigen neuen Kleider an, die sie in Stockholm gekauft hatte – englische hätten sie verraten können –, und ging die Treppe hinunter.
Als sie das Esszimmer betrat, war sie nervös. Es war über ein Jahr her, dass sie das letzte Mal den ganzen Tag über Dänisch gesprochen hatte. Nach der Landung gestern war sie über ein paar kurze Sätze nicht hinausgekommen. Jetzt musste sie sich in Smalltalk üben.
Außer ihr befand sich nur ein einziger Mensch im Raum, ein Mann mittleren Alters, der sie freundlich anlächelte und sich gleich vorstellte: »Guten Morgen. Ich bin Sven Fromer.«
Hermia zwang sich zur Ruhe. »Agnes Ricks«, sagte sie. Das war der Name, der in ihren gefälschten Papieren stand. »Ein schöner Tag heute, nicht wahr?« Du hast nichts zu befürchten, sagte sie sich. Du sprichst Dänisch mit dem Akzent des hauptstädtischen Bürgertums, und noch nie hat dich ein Däne für eine Engländerin gehalten – wenn du‘s nicht von dir aus erzählt hast. Sie nahm sich ein Schüsselchen voll Hafergrütze, goss kalte Milch darüber und begann zu essen. Ihre innere Anspannung war so groß, dass sie kaum einen Bissen herunterbrachte.
Der Mann, der Sven Fromer hieß, lächelte wieder und sagte: »Englischer Stil.«
Sie starrte ihn voller Entsetzen an. Wie hatte er sie so schnell entlarvt? »Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Die Art, wie Sie die Grütze essen«,
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