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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Nipawedel zu ihnen gelangte, und so gerieten sie, indem sie es tranken, immer mehr in den Bann dieser fahlgrünen Welt, in der die Vögel Stimmen wie knarrendes Holz hatten und alle Schlangen blind waren. In dieser trüben, miasmatischen Geistesverfassung, die der Dschungel heraufbeschwor, bereiteten sie ihre erste Mahlzeit zu, eine Mischung aus Nipafrüchten und zermatschten Erdwürmern, von der sie einen so heftigen Durchfall bekamen, dass sie sich zwangen, ihre Exkremente zu untersuchen, für den Fall, dass ihre Därme in dem Durcheinander herausgefallen waren.
    Farooq sagte: «Wir werden sterben.» Aber Shaheed war von einem mächtigen Überlebenswillen erfasst, denn nachdem er sich von den nächtlichen Zweifeln erholt hatte, war er zu der Überzeugung gekommen, dass er nicht auf diese Weise von hinnen gehen sollte.
    Im Regenwald verirrt und in dem Bewusstsein, dass das Nachlassen des Monsuns nur eine vorübergehende Pause war, befand Shaheed, dass der Versuch, einen Weg aus dem Dschungel zu finden, wenig Zweck hatte, wenn der wiederkehrende Monsun ihr unzulängliches Schiff jeden Augenblick sinken lassen konnte. Nach seinen Anweisungen wurde aus Ölzeug und Palmwedeln ein Unterstand gebaut; Shaheed sagte: «Solange wir uns an Früchte halten, können wir überleben.» Den Zweck ihrer Reise hatten sie alle längst vergessen; die Jagd, die in weiter Ferne, in der wirklichen Welt begonnen hatte, wurde im veränderten Licht der Sundarbans zu einem absurden Hirngespinst, was ihnen ermöglichte, sie ein für alle Mal aufzugeben.
    So kam es, dass Ayooba Shaheed Farooq und der Buddha sich den schrecklichen Sinnestäuschungen des Traumwaldes auslieferten. Die Tage vergingen, gingen unter dem Getöse des wiederkehrenden Regens ineinander über, und trotz Schüttelfrost Fieber Durchfall blieben sie am Leben, verbesserten ihren Unterstand,
indem sie die unteren Äste von Sundris und Mangroven abrissen, tranken die rote Milch der Nipafrüchte und erlernten Fertigkeiten zum Überleben, wie das Vermögen, Schlangen zu erwürgen und angespitzte Stöcke so gezielt zu werfen, dass sie vielfarbige Vögel durch den Kropf aufspießten. Aber eines Nachts erwachte Ayooba im Dunkeln und sah sich der durchsichtigen Gestalt eines Bauern mit einem Einschussloch im Herzen und einer Sense in der Hand gegenüber, die traurig auf ihn herunterstarrte, und als er sich mühte, aus dem Boot herauszukommen (das sie in ihren primitiven Unterstand gezogen hatten), trat aus dem Loch im Herzen des Bauern eine farblose Flüssigkeit aus und tropfte auf Ayoobas Schießarm. Am nächsten Morgen konnte Ayooba seinen Arm nicht mehr bewegen; er hing steif an seiner Seite, als habe man ihn eingegipst. Obwohl Farooq Rashid Hilfe und Mitleid offerierte, hatte es keinen Zweck; der Arm wurde durch die unsichtbare Flüssigkeit des Geistes festgehalten.
    Nach dieser ersten Erscheinung verfielen sie in eine Geistesverfassung, in der sie dem Wald alles zugetraut hätten; jede Nacht schickte er ihnen neue Strafen, die anklagenden Augen der Ehefrauen von Männern, die sie aufgespürt und verhaftet, das Geschrei und Äffchengeschnatter von Kindern, die sie zu Waisen gemacht hatten ... und in dieser ersten Zeit, der Zeit der Bestrafung, war sogar der teilnahmslose Buddha mit seiner feinen Städterstimme gezwungen zu gestehen, dass auch er angefangen hatte, nachts wach zu werden, und dann spürte, wie der Wald sich wie ein Schraubstock um ihn schloss, sodass er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
    Als der Dschungel sie genug bestraft hatte – als sie nur noch zitternde Schatten der Menschen waren, die sie einst gewesen -, gestattete er ihnen den zweischneidigen Luxus des Heimwehs. Eines Nachts sah Ayooba, der sich schneller in die Kindheit zurückbewegte als die anderen und begonnen hatte, an seinem einst beweglichen Daumen zu lutschen, wie seine Mutter auf ihn herabblickte und
ihm die köstlichen Süßigkeiten ihrer Liebe anbot, doch in dem Augenblick, in dem er nach den Laddoos griff, huschte sie davon, und er sah sie auf einen riesigen Sundribaum klettern, wo sie sich mit dem Schwanz an einem hohen Ast festklammerte und zu schaukeln begann: ein weißer Affe, der aussah wie ein Totengeist und die Züge seiner Mutter trug, besuchte Ayooba von da an jede Nacht, sodass er sich nach einer Weile an mehr als an ihre Süßigkeiten erinnern musste: wie sie gern zwischen den Schachteln mit ihrer Mitgift gesessen hatte, als ob auch sie einfach ein Ding gewesen sei,

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