Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
er brachte seine Schlangen dazu, unter dem Einfluss der vibrierenden Flötenmusik seine Botschaft darzustellen. Während ich in meiner Rolle als Lehrling eine vorbereitete Ansprache vorlas, setzten Schlangen meine Rede in Szene. Ich sprach von der schändlichen Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Güter, Schlangen führten in einer Pantomime die Posse von einem reichen Mann vor, der sich weigerte, einem Bettler Almosen zu geben. Ich sprach von Polizeischikanen Hunger Krankheit Analphabetentum, und die Schlangen tanzten dazu; dann beendete Picture Singh seine Vorführung und begann zu erklären, was die rote Revolution verändern wollte, und die Luft war von Versprechungen geschwängert, sodass gewisse Spaßvögel aus dem Publikum, sogar schon bevor die Polizei aus den Hintertüren des Postamts auftauchte, um die Versammlung mit Lathi-Angriffen und Tränengas aufzulösen, damit begannen, den Bezauberndsten Mann der Welt zu drangsalieren. Ein junger Mann,
den die vieldeutige Pantomime der Schlangen, deren dramatischer Gehalt zugegebenermaßen ein wenig unklar war, vielleicht nicht überzeugt hatte, rief aus: «Ohe, Pictureji, du solltest in der Regierung sein, Mann, noch nicht einmal Indiramata macht so schöne Versprechungen wie du!»
    Dann kam das Tränengas, und wir mussten hustend spuckend blind vor der Bereitschaftspolizei fliehen, als wären wir Kriminelle, und weinten beim Laufen falsche Tränen. (So wie einst im Jallianwalabagh — aber diesmal flogen wenigstens keine Kugeln.) Wenn auch die Tränen bloß vom Tränengas herrührten, so war Picture Singh doch wegen des höhnischen Zwischenrufs in schreckliche Schwermut verfallen, weil dadurch infrage gestellt wurde, dass er die Realität im Griff hatte, und darauf war er doch am meisten stolz. Und Gas und Stöcke brachten es mit sich, dass auch ich niedergeschlagen war, weil ich plötzlich in meinem Magen eine Motte des Unbehagens entdeckt und erkannt hatte, dass etwas in mir sich dagegen wehrte, wie Picture Singh durch den Schlangentanz die unverbesserliche Schlechtigkeit der Reichen darstellte; ich ertappte mich bei dem Gedanken: «Überall gibt es Gutes und Schlechtes – und sie haben mich aufgezogen, sie haben sich um mich gekümmert, Pictureji!» Danach begriff ich allmählich, dass Mary Pereiras Verbrechen mich zweier Welten, nicht nur einer, entfremdet hatte, dass ich, nachdem ich aus dem Haus meines Onkels ausgestoßen worden war, nie wieder richtig die Welt betreten konnte, wie Picture Singh sie sah, dass in der Tat mein Traum, das Land zu retten, ein Gebilde aus Spiegeln und Rauch war, nicht fassbar, das Geschwätz eines Idioten.
    Und dann stand Parvati mit ihrem veränderten Profil in der scharfen Klarheit des Wintertages.
    Es war – oder vertue ich mich? Ich muss mich beeilen, die ganze Zeit entfallen mir Dinge – ein entsetzlicher Tag. Damals – wenn es nicht ein anderer Tag war – fanden wir die alte Resham Bibi erfroren in ihrer Hütte liegend, die sie aus Dalda-Vanaspati-Verpackungskartons
gebaut hatte. Sie war leuchtend blau geworden, krischnablau, blau wie Jesus, blau wie der Himmel in Kaschmir, dessen Bläue zuweilen manchen in die Augen tröpfelt; wir verbrannten sie am Ufer des Jamuna inmitten von Schlammfladen und Büffeln, und folglich verpasste sie meine Hochzeit, was traurig war, denn wie alle alten Frauen liebte sie Hochzeiten und hatte in der Vergangenheit tatkräftig und ausgelassen bei den vorhergehenden Hennazeremonien mitgemacht und dabei die traditionellen Gesänge angestimmt, in denen die Freunde der Braut den Bräutigam und seine Familie beleidigen. Einmal waren ihre Beleidigungen so brillant und raffiniert gewesen, dass der Bräutigam daran Anstoß nahm und die Hochzeit absagte; Resham aber war unverzagt und sagte, es sei nicht ihre Schuld, wenn die jungen Männer heutzutage so bänglich und unbeständig seien wie Hühner.
    Ich war abwesend, als Parvati wegging, ich war nicht anwesend, als sie wiederkehrte, und noch etwas war merkwürdig ... wenn ich mich nicht irre, wenn es nicht an einem anderen Tag war ... wie auch immer, mir scheint, dass an dem Tag, als Parvati zurückkehrte, in Samastipur ein indischer Kabinettsminister in seinem Eisenbahnabteil von einer Explosion in die Geschichtsbücher gejagt wurde, dass Parvati, die inmitten von Atombombenexplosionen weggegangen war, wieder zu uns zurückkehrte, als L. N. Mishra, Eisenbahn- und Bestechungsminister, diese Welt für immer verließ. Omen über Omen ...

Weitere Kostenlose Bücher