Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Familienstammbaum zu erfinden, der in späteren Jahren, als Whisky die Grenzen seines Gedächtnisses verwischte und Flaschengeister kamen und ihn durcheinander brachten, keine Spur von Realität mehr erkennen lassen sollte ... und wie er, um uns seine Absicht wirkungsvoll einzutrichtern, die Idee des Familienfluchs in unser Leben einführte.
«O ja», sagte mein Vater, als Methwold einen ernsten, gar nicht lächelnden Kopf schräg legte, «viele alte Familien besitzen einen solchen Fluch. In unserer Linie wird er vom ältesten Sohn an den ältesten Sohn weitergereicht – nur schriftlich, denn allein ihn auszusprechen heißt seine Kraft entfesseln, wissen Sie.» Nun Methwold: «Erstaunlich! Und Sie kennen die Worte?» Mein Vater nickt mit
vorstehender Lippe und stillem Zeh, als er sich nachdrücklich an die Stirn klopft. «Alles hier drinnen, alles memoriert. Nicht mehr in Gebrauch gewesen, seit ein Urahn sich mit dem Herrscher Babur stritt und seinen Sohn Humayun mit dem Fluch belegte ... schreckliche Geschichte das – jedes Schulkind kennt sie.»
Und die Zeit sollte kommen, da mein Vater, der gar nicht mehr anders konnte als sich aus der Wirklichkeit zurückziehen, sich in ein blaues Zimmer einsperren und versuchen sollte, sich an einen Fluch zu erinnern, den er eines Abends im Garten seines Hauses zusammenphantasiert hatte, während er, sich an die Schläfe tippend, neben dem Nachfahren von William Methwold stand.
Nun, mit Fliegenpapier-Träumen und eingebildeten Vorfahren beladen, bin ich immer noch mehr als einen Tag davon entfernt, geboren zu werden ... aber nun macht das unbarmherzige Ticktack sich wieder geltend: noch neunundzwanzig Stunden, achtundzwanzig, siebenundzwanzig ...
Welche anderen Träume wurden in dieser letzten Nacht geträumt? War es damals – ja, warum nicht –, dass Dr. Narlikar, ohne das Geringste von dem Drama zu ahnen, das sich in seinem Entbindungsheim abspielen sollte, erstmals von Tetrapoden träumte? War es in dieser letzten Nacht – während nördlich und westlich von Bombay Pakistan geboren wurde –, dass mein Onkel Hanif, der (wie seine Schwester) nach Bombay gekommen war und sich in eine Schauspielerin, die göttliche Pia («Ihr Gesicht ist ihr Vermögen! », sagte die Illustrated Weekly einmal), verliebt hatte, sich erstmals den kinematographischen Trick ausdachte, der ihm bald den ersten seiner drei Erfolgsfilme verschaffen sollte? ... Es scheint möglich; Mythen, Alpträume, Phantasien lagen in der Luft. So viel ist sicher: Mein Großvater Aadam Aziz, der nun allein in dem großen alten Haus an der Cornwallis Road lebte – abgesehen von einer Frau, deren Willenskraft zuzunehmen schien, während er vom Alter zermürbt wurde, und einer Tochter, Alia, die ihre verbitterte Jungfräulichkeit behalten sollte, bis eine Bombe sie mehr als achtzehn
Jahre später schließlich in Stücke riss –, wurde in dieser letzten Nacht plötzlich in schweren Eisenringen der Sehnsucht gefangen und lag wach, während sie auf seine Brust drückten; bis er schließlich um fünf Uhr am Morgen des 14. August – noch neunzehn Stunden – von einer unsichtbaren Kraft aus dem Bett gestoßen und zu einem alten Blechkoffer gezogen wurde. Als er ihn öffnete, fand er: alte Exemplare deutscher Zeitschriften; Lenins Was tun?; einen zusammengefalteten Gebetsteppich und als Letztes das, was er, einem unwiderstehlichen Zwang gehorchend, noch einmal hatte sehen wollen – weiß und zusammengefaltet, in der Morgendämmerung matt leuchtend; aus dem Blechkoffer seiner Vergangenheit zog mein Großvater ein beflecktes Laken mit einem Loch und entdeckte, dass dieses Loch gewachsen war, dass in dem Stoff darum herum weitere, kleinere Löcher waren; und in den Klauen einer ungestümen nostalgischen Wut rüttelte er seine Frau wach und erstaunte sie dadurch, dass er brüllte, während er ihr mit ihrer Geschichte vor der Nase herumwedelte:
«Mottenzerfressen! Sieh dir das an, Begum: mottenzerfressen! Du hast vergessen, Mottenkugeln hineinzulegen!»
Aber nun lässt der Countdown sich nicht mehr verleugnen ... achtzehn Stunden, siebzehn, sechzehn ... und schon kann man in Dr. Narlikars Entbindungsheim die Schreie einer kreißenden Frau hören. Wee Willie Winkie ist hier und seine Frau Vanita; seit acht Stunden liegt sie nun schon in überlangen, unproduktiven Wehen. Die ersten überfielen sie gerade, als M. A. Jinnah, Hunderte von Kilometern entfernt, die mitternächtliche Geburt einer
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