Mitternachtslöwe (German Edition)
ihrem plötzlichen Besucher zu. Der Gesang verstummte und auch Abaris und Byrger sahen interessiert zu ihr. Eine der Gewandeten trat auf Sophia zu, die anderen bildeten einen Halbkreis um sie. Für einen Augenblick sah Sophia aus der schwarzen Leere der Kapuze den Mond in den Augen ihres Gegenüber flüchtig funkeln. »Wer bist du?«, fragte sie. Immer dichter trat sie an Sophia heran, zögernd und mit misstrauischer Vorsicht, aber wohl auch neugierig.
Sophia wiederholte sich. »Ich bin Terpsichore, Mutter der Sirenen. Ich komme, um bedeutende Botschaft kund zutuen. Meine Kinder, ihr seid in großer Gefahr. Die Menschen haben Schiffe entsandt, viele Schiffe, um euch zu jagen. Ihr müsst diesen Ort verlassen.«
»Du bist nicht Terpsichore, Sterbliche«, fauchte die Sirene Sophia an, »Seid ihr schon so verzweifelt, dass euch nichts Besseres mehr einfällt? Euer ganzes Dorf ist nur ein Haufen erbärmlicher Menschen. So feige, dass ihr jetzt ein kleines, schwaches Mädchen schickt und mit billigen Tricks versucht uns von hier fortzukriegen. Das ist unsere Insel. Wir bestimmen und regieren sie, ihr habt euch zu fügen und hattet bislang Glück hier überhaupt von uns geduldet zu werden!«
Sophia war aufgeflogen. Ihr Herz raste. Doch nicht vor Angst. Die Worte der Sirene trampelten ihr durch das Gesicht und hinterließen Furchen des Hasses.
Kleines, schwaches Mädchen? Eingebildete Schnepfe!
Ein Poltern, auf das ein heftiger Fluch folgte, lenkte ruckartig die Aufmerksamkeit der Sirenen auf sich.
»Die Männer. Sie haben die Männer geholt! Sie hat uns reingelegt«, zischte die Sirene, »Bringt sie wieder her!«
Sofort warfen alle Sirenen ihre Gewänder von sich. Sophia entsetzte, als sie die darunter verborgenen Wesen sah. Ihre Körper bedeckten Federn, die im matten Licht des Mondes silbern schimmerten, wie das fahle Glitzern der Sterne, wenn sie sich auf seichter See widerspiegeln. Mit ihren großen Schwingen glichen sie riesigen Vögeln. Die Köpfe dieser Wesen waren jedoch durch und durch menschlich. Wunderschöne Frauengesichter mit langem, samtigen Haar. Einige breiteten ihre Flügel aus und erhoben sich blitzschnell in die Luft, während andere in den Wald verschwanden, um die Verfolgung aufzunehmen.
»Dummes, kleines Ding! Es wird mir eine Freude sein dich zu töten!«, fauchte die Sirene.
Sophia wankte zurück, stolperte und fiel zu Boden. Die Wut in ihr nahm unerträgliche Ausmaße an.
Nein, bitte nicht. Das darf nicht geschehen.
Die Sirene stapfte mit ihren scharfen Krallen auf ihren Gegner nieder. Sophia wich aus und rollte sich beiseite. Flink stellte sie sich wieder auf die Beine, griff zum Gürtel und zog ihren Dolch.
Die Sirene schlug mit ausgebreitetem Flügel auf ihre Widersacherin ein. Knapp strichen die Federn über Sophias Haupt hinweg. Sofort setzte die Sirene einen weiteren Schlag nach. Sophia umklammerte ihren Dolch fest mit beiden Händen, ging in die Grätsche, den Dolch dabei in die Höhe gestreckt und schnitt eine tiefe Wunde in den Flügel, der über sie hinweg fegte. Die Sirene schrie auf und befleckte ihr Federkleid mit Blut. Der riesige Vogel wankte, dachte jedoch nicht daran zu Boden zu gehen. Das hübsche Gesicht der Frau mit dem Vogelkörper war übersät mit Falten des Zorns.
»Für dein törichtes Benehmen wirst du bezahlen, schwächliches Menschenmädchen!«
Ohne Gnade stürmte die Sirene auf sie los, mit den riesigen Krallen voran. Sophia versuchte den Tritten auszuweichen, wurde aber von einer Klaue erwischt und ging zu Boden. Fest presste die Sirene ihre Kralle auf ihren Körper. Sophia wand sich und versuchte mit blossen Händen die Krallen von sich wegzubekommen, aber es war vergebens. Wie Wurzeln umklammerten sie die Klauen und drückten sie beim Versuch sie zu lockern nur noch weiter ins Erdreich hinein.
Mit großen Flügelschlägen kamen die anderen Sirenen zurück. Fest in ihren Klauen trugen sie Abaris, Byrger, den Kapitän und Matte. Sie ließen sie neben Sophia zu Boden fallen, um sie dann ebenfalls mit ihren Krallen festzunageln.
»Deine Freunde haben Glück. Sie werden uns gute Diener sein, für unseren Nachwuchs sorgen und ihn nähren. Du allerdings bist wertlos für uns, dumme Göre!«
Sophia pochte das Herz bis zum Hals. Immer schneller, immer heftiger. Das Blut stieg ihr in den Kopf, brachte ihn zum beben.
»Sophia, bist du das? Wo bist du?« Noch vom Gesang der Sirenen benommen starrte Abaris hilflos umher.
Da konnte Sophia ihre Wut nicht weiter
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